Blickfang Ultra stellte uns diesen lesenswerten Artikel aus der aktuellen Ausgabe zur Verfügung, den wir sehr gerne auf unserem Blog veröffentlichen.
Von ACAB – Freundeskreis
Um sowohl die vorangehenden, als auch die folgenden Ausführungen nicht falsch zu verstehen, möchte ich meinen Standpunkt kurz darstellen. Es ist gut, dass sich viele junge Menschen für das Leben als Ultrà entschieden haben. Die Ultràbewegung hat sich zu einer großen, ausdifferenzierten Jugendkultur entwickelt, die Woche für Woche grandiose Dinge auf die Beine stellt. Es passiert unglaublich viel in den einzelnen Städten, Stadien und Szenen. Die Ultràkultur ist kein gesellschaftliches Randphänomen mehr sondern ist mittlerweile auch der Mitte der Gesellschaft bekannt. Den größten Verdienst, den ich der Ultràkultur attestieren möchte, ist jedoch der, dass über die Jahre zehntausende junger Menschen interessante, abenteuerliche und augenöffnende Erfahrungen machen konnten, die sie ansonsten nie gehabt hätten. Das finde ich absolut wichtig und erhaltenswert. Trotzdem möchte ich versuchen einige selbstkritische und heikle Fragen aufzuwerfen, auf die jeder Ultrà selbst seine Antwort finden muss.
Manchmal kommen wir uns ziemlich stark und mächtig vor. Wir versuchen uns selbst vorzutäuschen, dass wir irgendwie an allen Entscheidungen mitwirken. Dann gibt es hier ein Spruchband und dann wird dort mit dem Verein ein Kompromiss ausgehandelt. Das ist gut und notwendig, aber es ändert nichts daran, dass das Geld auch im Fußball alles bestimmt. Wir Ultras sind also eine stellvertretende Gemeinschaft, in der wir uns als Individuum aufgehoben und wertgeschätzt fühlen. Wir erhoffen uns als Gemeinschaft natürlich auch, eine größere Macht bei Entscheidungen zu haben. So schwer es einem jeden von uns fällt diese, unsere Gemeinschaft zu hinterfragen, so unausweichlich stellen sich früher oder später Fragen ein, wie: „Sind wir eine echte, solidarische Gemeinschaft?“ oder „Können wir tatsächlich Entscheidungen beeinflussen?“ oder „Sind mir die elf Leute und der Verein wirklich so wichtig?“ und schließlich „Können wir nicht sogar viel mehr erreichen, als wir momentan denken und tun?“.
Ganz klar: Es ist eine mächtige Sache – ein Gefühl sowohl der Zugehörigkeit, als auch der Macht, das von einer vereinten Menge hervorgebracht wird. Dazugehören und Loyalität sind grundlegende Motivationen einer (Ultras-)Gruppierung beizutreten. Und es geht auch darum, akzeptiert zu werden und vielleicht um die Chance, in einem Zeitalter der Banalität etwas Außergewöhnliches zu erleben. Auf der anderen Seite ist es in den meisten Fällen eine Gemeinschaft, die ein völlig fabriziertes Team mit einer genauso fabrizierten Identität unterstützt. Da hilft auch keine noch so romantische Nostalgie. Fußball ist ein Spiel und wie so oft ist dieses immer stärker inszenierte Spektakel – ob im Sport, in der Politik oder in der Kultur – ein Ersatz für das wirkliche Leben. Das wirkliche Leben, unser Alltag und unser Handeln in diesem, sollten letztlich jedoch Gradmesser einer Lebensbilanz seien. In der heutigen Realität gibt es kaum noch echte, solidarische Gemeinschaften. Gründe dafür sind dem geneigten Leser sicherlich bekannt und sollen hier nur als Stichpunkte genannt werden: Vereinzelung, autoritäre Hierarchien, Entsolidarisierung, Karriereorientierung, Werteverlust – kurzum: die aktuelle profit- und konsumorientierte Ellenbogengesellschaft.
Als Ultrà erlebt man viel. Man erlebt Momente des Glücks, des Triumphes, des Stolzes, aber auch Momente der Trauer, der Angst und der Wut. All diese Erlebnisse prägen, und viele von uns haben durch unsere Subkultur einen neuen, einen kritischeren Blick für Dinge bekommen. Wir wissen, wie sehr die Wirtschaft, das Kapital und Großkonzerne den ehemaligen Volkssport Fußball zerstören. Wir haben nicht zuletzt anhand der internationalen Fußball-Großevents gelernt, wie korrupt und geldgesteuert Lobbyisten und die angeblichen Fußballliebhaber von der FIFA bis zum DFB sind. Und wir müssen jedes Wochenende neue Erfahrungen sammeln, wie der Staat und Politik mit diesen Damen und Herren unter einer Decke stecken und missliebige Stimmen und Gruppierungen mit polizeilichen und juristischen Sanktionen überziehen. Viele, aber noch viel zu wenige von uns haben erkannt: das hat System. Und genau dieses, unser aktuelles Wirtschaftssystem, welches den Fußball durchdringt und zerstört, wirkt sich in weit zerstörerischem Ausmaß auf weltpolitische und alltägliche Vorgänge aus. Wir müssen erkennen, dass wir unseren kritischen Blick im Bezug auf Kommerzialisierung, Polizeigewalt und (Vereins-)Politik nicht nur rund um den Fußball einsetzen. Wo wir wieder bei der leidigen Frage „Was ist Ultrà?“ angekommen wären. Zumindest weiß ich, was es nicht ist, nämlich einmal in der Woche 90 Minuten singen und Fahnen schwenken. Ultrà bedeutet vielmehr, mit offenen Augen durch die Welt zu gehen und gesellschaftliche Missstände wahrzunehmen und zu analysieren. Werte wie Emotionalität, Echtheit, Autonomie, Freiheit oder Unabhängigkeit waren Dinge, die uns ausgemacht haben und auf die wir uns wieder zunehmend besinnen sollten. Wir suchen etwas, was uns diese durchorganisierte, kommerzialisierte Gesellschaft nicht bieten kann. Diese Werte nicht zur zu propagieren, sondern mit allen Konsequenzen auch außerhalb des Stadions zu leben, zeichnet einen wahren Ultrà aus. Genau hier hat die Ultràkultur ihren größten Verdienst, nämlich in der Politisierung dieser vielen jungen Menschen. Wir wurden und werden politisiert, weil wir uns in diesem Kosten-Nutzen-System einen antikommerziellen Freiraum schaffen wollten, in den wir unsere eigenen Werte und Ideale pflegen wollten. Also wurden wir verteufelt, schikaniert, verprügelt und eingesperrt. Wir hielten mit Spenden, immer professionellerer Antirepressionsarbeit und „ACAB“ dagegen – das vereinte und politisierte viele von uns. Ultras waren in allen Ländern der Welt zu jeder Zeit dieser Verteufelung, Verfolgung und Repression ausgesetzt und in vielen Ländern war es noch weitaus schlimmer. Denn der Staat will Kontrolle über alle gesellschaftlichen Bereiche und duldet keine Alternative zu sich selbst und seinen Gesetzen. Der Fußballzirkus aber braucht unsere Stimmen, unsere Trommeln, unsere bunten Fahnen und Choreos, damit das Spektakel auch weiterhin seinen Reiz für die Millionen von Menschen weltweit hat. Wir haben uns bereits oft (auch in diesem Heft) zu Recht gefragt, ob uns diese Rolle gefällt oder ob wir nicht viel mehr aus dem grandiosen Potential, welches in der hiesigen Ultràkultur steckt, machen sollten. In den letzten Jahren gab es in verschiedenen Ländern politische Umwälzungen bzw. Proteste, bei denen oft in vorderster Reihe Ultras eine wichtige Rolle spielten. Einige dieser Proteste werden in aller Kürze beschrieben.
Nachdem das Los zur WM-Austragung auf Brasilien fiel, schossen die Ticketpreise in die Höhe, sowohl um bei der Menge maximal abzukassieren, als auch, um die unruhigeren Elemente aus den ärmeren Siedlungen und Vierteln auszuschließen. Nichts anderes passierte in England und wird nun auch Stück für Stück hierzulande umgesetzt. Die anschließenden Proteste richteten sich gegen die Ausrichtung der WM 2014 in Brasilien, gegen Korruption, gegen soziale Missstände, Erhöhung von Preisen im öffentlichen Nahverkehr und unrechtmäßige Polizeigewalt, die vor allem die arme Bevölkerung der Favelas betraf. Es waren die größten Unruhen in Brasilien seit 1980. Im Vorlauf dieser WM wurde die Verstrickung zwischen Fußballindustrie (FIFA etc.), Politik und Großkonzernen in besonders erschreckender Weise deutlich. Nachdem meist politische Gruppierungen, Studenten und Favela-Bewohner Proteste organisiert hatten, schlossen sich ihnen in Sao Paulo auch die Ultras der beiden großen Vereine an.
Wie vielen bekannt sein dürfte, schlossen sich die Ultras der drei großen Istanbuler Vereine zu „Ultras United“ zusammen und kämpften an der Seite fortschrittlicher politischer Gruppierungen gegen den autoritären und brutalen Führungsstil des Ministerpräsidenten Erdogan. Die Protestwelle begann am 28. Mai 2013 in Istanbul mit Demonstrationen gegen ein geplantes Bauprojekt auf dem Gelände des Gezi-Parks, der unmittelbar an den Taksim-Platz angrenzt. Ein Ort der Begegnung, der Ruhe und des gemeinsamen Beisammenseins sollte einem modernen Städtebauprojekt zum Opfer fallen. Die Protestwelle weitete sich nach dem brutalen Vorgehen der Polizei aus, sodass fortan gegen die autoritäre Politik der islamistisch-konservativen Regierungspartei AKP demonstriert wurde.
Anfang 2011 kam es in den großen Städten Ägyptens zu Demonstrationen. Die Demonstranten wendeten sich vor allem gegen das seit Oktober 1981 bestehende Regime des damals noch amtierenden ägyptischen Präsidenten Muhammad Husni Mubarak, dem Korruption und Amtsmissbrauch vorgeworfen wurde. Die Antwort des Staates verlief auch hier äußerst brutal und forderte viele Menschenleben. Die leidgeprüften Ultras der Kairoer Vereine reihten sich bald in die Proteste ein und wurden schnell zum „Motor der Revolution“. Einige Zeit später trat Mubarak tatsächlich zurück.
Die Nennung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern soll nur einige Parallelen verdeutlichen. Bei den genannten Protesten kam es zu einem extrem brutalen Einschreiten der staatlichen Organe bzw. der Polizei. Unzählige tapfere Menschen ließen auf dem Tahrir-Platz, dem Taksim oder in den Favelas ihr Leben. All dies waren Bewegungen und Proteste für die Menschen – für die Armen, Unterdrückten und Entrechteten. Es war immer ein Kampf der Menschen gegen den Staat und Wirtschaftsinteressen. In Istanbul, wie auch in Brasilien hatten die Menschen keine Lust mehr auf diese geldfixierte, kapitalistische Gesellschaft, die den Kleinen immer größere Opfer abverlangt, während die Großen immer mehr Geld und Macht bei sich versammeln. Es sind und waren soziale Bewegungen mit politischen Forderungen, die von den Ultras unterstützt wurden. Den Ultras in diesen Ländern fielen die zahlreichen Parallelen zwischen ihnen und diesen sozialen Bewegungen und ihren Forderungen auf und bald war es ihr gemeinsamer Kampf auf der Straße. Die Ultras wurden durch ihr Engagement und ihren Einsatz für den Großteil der Bevölkerung unsterblich. Sie haben sich damit gesamtgesellschaftlich ein Denkmal gesetzt, indem sie für ein besseres Leben und für ihre Mitmenschen gekämpft haben.
Was soll nun dieser kritische Text und was sollen die Geschichten über mutige Ultras in fernen Ländern? Zum Einen soll der Text jeden Ultrà zum Nachdenken anregen. Und zwar darüber, ob es dem Einzelnen genügt, alles für seinen Verein, seine Szene oder seine Farben getan zu haben oder ob es da nicht etwas Größeres gibt, für das man einstehen könnte (ohne Ersteres aufgeben zu müssen). Es gibt ein Leben außerhalb des Fußball, welches genauso von diesem brutalen Wirtschaftssystem vereinnahmt ist, wie unser geliebter Fußball. Es gibt Menschen, die kämpfen für oder gegen ähnliche Dinge um ein besseres Leben zu ermöglichen. Ob nun in Istanbul, Kairo, Sao Paulo oder Berlin – das Prinzip ist dasselbe, mit dem wir ruhig gehalten werden sollen.Weiterhin soll der Text verdeutlichen, welche Potentiale in unsere Subkultur stecken – auch in diesem Land! Wir sind viele, auch wenn wir in den Farben getrennt sind. Ultras sind kampferprobt, gut organisiert und die meisten wissen, wie Politik, Medien und Großkonzerne zusammenarbeiten. Die Beispiele haben gezeigt, welches Potential Ultras entfalten können, wenn sie sich einig sind. Man muss nur Parallelen ziehen, unser Leben und unseren Alltag kritisch betrachten, sich einmischen und fortschrittliche Bewegungen und Proteste unterstützen – dabei ist es wichtig, die richtige Kritik zu üben und nicht auf populistische Losungen reinzufallen, die die Ursache für aktuelle Probleme in Minderheiten sehen.Dann geht es nicht mehr um ein verlorenes Spiel oder eine wunderbare Choreografie, dann geht es um das Leben aller, die an diesem System (und damit an ihrem Leben) etwas ändern möchten. Welche Schlüsse jeder Einzelne für sich zieht, ist ganz allein seine bzw. ihre Sache – der Text hat lediglich den Anspruch Gedanken und Diskussionen anzuregen.
Wer die Wahrheit nicht weiß, der ist bloß ein Dummkopf. Aber wer sie weiß und sie eine Lüge nennt, der ist ein Verbrecher. (Bertolt Brecht)
ACAB – Freundeskreis, 2014
Quelle: Blickfang Ultra 35