Kein Land in Sicht

http://ballesterer.at/cache/images/article_2535_aek_refugees_140.jpgMoritz Ablinger (Ballesterer #107)

Die griechische Insel Lesbos ist für viele Flüchtlinge die erste Anlaufstation in Europa. Dort, wie in ganz Griechenland, sind es aber nicht staatliche Einrichtungen, die ihnen helfen, sondern private Initiativen. Auch Ultras packen mit an.

Keine 20 Kilometer trennen die griechische Insel Lesbos vom türkischen Festland. Ein großer Teil der Flüchtlinge, die seit dem Sommer die Grenzen überqueren, betritt dort erstmals den Boden der Europäischen Union. Bis zu hundert Boote mit Flüchtlingen landen täglich, über 200.000 Menschen sind alleine in diesem Jahr auf Lesbos angekommen. Lange bleiben wollen aber die wenigsten. Aus provisorischen Lagern geht es für die meisten mit der Fähre nach Athen weiter, von dort in den Norden nach Thessaloniki und an die mazedonische Grenze. „Es sind chaotische Zustände“, sagt Antonios Daloukas, Präsident der antirassistischen Initiative „FOUL“. „Es gibt keine politische Reaktion, die Flüchtlinge sind auf private Hilfe angewiesen.“ Es sind auch aktive Fanszenen, die diese Hilfe organisieren.

Tourists fuck off
Zu ihnen zählt „Gate 10“, die Ultragruppe von Iraklis aus Thessaloniki. Schon als sie Ende August am ersten Spieltag der Saison zum AEL Kalloni auf Lesbos reiste, hatte sie ein Transparent im Gepäck, auf dem zu lesen war: „Refugees welcome, tourists fuck off!“ Ein klares Statement, auch in Richtung der Medien. „Viele Leute sehen in den Flüchtlingen eine Gefahr für den Tourismus und die griechische Wirtschaft“, sagt Apollon von „Gate 10“, der in Wirklichkeit einen anderen Namen trägt. „Aber das sind schutzbedürftige Menschen, die unsere Hilfe brauchen.“ Seitdem sammeln die Fans Spenden in ihrem Klubhaus. Kleidung, Spielsachen und Lebensmittel kommen zusammen, die „Gate 10“ an der Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien an die Flüchtlinge verteilt. Auch an Demonstrationen in Thessaloniki haben die Ultras teilgenommen. „Das ist das Mindeste, was wir tun können“, sagt Apollon.

„Gate 10“ gilt als linke Gruppe, doch auch Fankurven ohne klare politische Positionierung sammeln zugunsten der Flüchtlinge. „Das war wirklich überraschend“, sagt Daloukas. „Bei vielen hätte ich mir diese Art der Hilfe nicht erwartet.“ In Athen etwa beteiligten sich einzelne Fanklubs von „Gate 13“ bei Panathinaikos und „Original 21“ bei AEK an Spendenaktionen, in Thessaloniki sammelten auch Fans von PAOK und Aris für die Flüchtlinge. Auch negative Transparente gab es kaum. Daloukas sagt: „Eigentlich ist Rassismus auf den Tribünen sehr präsent, aber in Richtung der Flüchtlinge ist nichts gekommen.“

Land der Flüchtlinge
Der Antirassismusexperte Daloukas hat für diese starke Solidarität eine Erklärung: „In Griechenland gibt es viele Menschen, die sich selbst als Kinder von Flüchtlingen begreifen.“ Zu Beginn der 1920er Jahre flohen als Folge des Griechisch-Türkischen Kriegs etwa 1,5 Millionen Menschen aus der neu entstandenen Türkei. Die meisten von ihnen siedelten sich in Griechenland an. Alleine 1921 wuchs die Bevölkerung Athens um 250.000 auf 718.000 Einwohner an. „Die Erinnerung daran ist auch heute noch sehr präsent“, sagt Daloukas. „Vereine wie AEK identifizieren sich stark mit dieser Tradition.“ Schon der Name des Klubs unterstreicht diese Bedeutung: Sportvereinigung Konstantinopel, so lautet die Übersetzung von Athlitiki Enosis Konstantinoupoleos. Zum Heimspiel gegen Giannina am 13. September luden die AEK-Fans Flüchtlinge ein, das Spiel mit ihnen gemeinsam in der Kurve zu sehen. In Thessaloniki gilt Ähnliches für PAOK, auch dieser Verein wurde in den 1920er Jahren nach der massenhaften Flucht aus der Türkei gegründet.

Eine politische Antwort auf die Flüchtlingsfrage lässt jedoch auf sich warten. „Wir haben nicht die notwendigen Ressourcen, um diese Situation allein zu lösen“, sagte Ministerpräsident Alexis Tsipras. Derzeit sind auf Lesbos kaum sanitäre Einrichtungen für die Flüchtlinge vorhanden, Zelte müssen sie sich selbst kaufen. Die beiden Camps, die es auf der Insel gibt, werden von der Polizei bewacht, betreut werden sie kaum. Es sind auch auf Lesbos die privaten und nicht die staatlichen Initiativen, die das Leben der Flüchtlinge erleichtern. So wie die Organisation „FOUL“, gemeinsam mit dem lokalen Klub AEL Kalloni sammelt auch sie Spenden. „Momentan arbeiten wir am Aufbau einer Amateurmannschaft für Flüchtlinge“, sagt Daloukas. „Vielleicht können wir das auch über die Insel hinaus organisieren.“

Mit offenen Augen
Vor dem Winter wird das allerdings schwierig. Richtig kalt wird es in Griechenland zwar selten, im Dezember sinkt das Thermometer aber auch auf Lesbos regelmäßig unter zehn Grad, und der Regen nimmt stark zu. „Im Sommer haben die meisten Menschen noch unter freiem Himmel schlafen können“, sagt Daloukas. „Das wird jetzt immer weniger möglich sein.“

Zurzeit verhandelt die griechische Regierung mit der EU, wie die Erstaufnahme besser zu bewerkstelligen sei. Ausgaben für die Flüchtlingshilfe, so die Forderung, sollen nicht in das Budgetdefizit des Landes eingerechnet werden. „Irgendetwas muss passieren“, sagt Daloukas. Denn an manchen Dramen kann auch die Zivilgesellschaft nichts ändern. In der rauen See vor den griechischen Inseln kentern immer mehr Boote auf der Überfahrt. Alleine in der letzten Oktoberwoche ertranken 60 Menschen auf dem Seeweg von der Türkei nach Griechenland. Die Ultras von „Gate 10“ werden sich auch weiterhin an der Flüchtlingshilfe beteiligen. In letzter Zeit sammeln sie vor allem Dinge, die im Winter wichtig sind. Warme Kleidung und Zelte stehen hoch im Kurs. „Wir können keine großen Rettungsaktionen auf die Beine stellen“, sagt Apollon. „Aber wir dürfen unsere Augen nicht davor verschließen, was in der Welt passiert.“

Quelle: Ballesterer # 107, 10. November 2015

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