Links zum Thema:
Schlaglicht auf die ägyptische Polizeigewalt → NZZ
Opinion: Egypt’s soccer violence has deeper roots → CNN
Von Jonas Beckenkamp
Ägyptens Fußball erlebt mit 19 Toten die nächste Tragödie. Nahost-Fußballexperte James M. Dorsey erklärt, wer die vermeintlichen Krawallmacher in den Stadien sind und welche Rolle die Regierung in Kairo spielt.
Vor fast genau drei Jahren, am 1. Februar 2012, hat es im ägyptischen Fußball schon einmal gekracht. Bei Zusammenstößen rund um ein Spiel in Port Said kamen 74 Menschen ums Leben, etwa 1000 wurden verletzt. In der Folge ruhte der Ligabetrieb. Jetzt wiederholt sich die Geschichte: Bei erneuten Krawallen vor der Partie der Klubs Zamalek und ENPPI starben am Sonntag 19 Menschen.
Der Publizist James M. Dorsey beschäftigt sich seit langem mit Fußball im Nahen Osten. Seine Plattform “The Turbulent World of Middle East Soccer” gilt als verlässliche Quelle über die Szene im arabischen Raum. Der 63-Jährige ist außerdem als Senior Fellow an der S. Rajaratnam School of International Studies in Singapur tätig – und ist Co-Direktor des Instituts für Fankultur an der Uni Würzburg.
SZ: Herr Dorsey, was ist am Sonntag schief gegangen?
James M. Dorsey: Die Situation ist total aus dem Ruder gelaufen. Das Mindeste, was man den Autoritäten vorwerfen muss, ist, dass sie naiv waren und völlig überreagiert haben. Wir reden hier von einem zutiefst gespaltenen Staat mit brodelnder politischer Lage – da braucht es mehr Fingerspitzengefühl. Es ist furchtbar, dass erneut so viele Menschen ums Leben kamen.
Anhänger des Klubs Zamalek sollen ohne Tickets ins Stadion gestürmt sein. Sie wurden beschossen, zertrampelt und erstickten am Tränengas der Polizei.
Die Berichte, dass Zuschauer ohne Tickets ins Stadion wollten, sind sicher wahr. Die Anhänger durften seit den tragischen Ereignissen von Port Said nicht ins Stadion, seit fast drei Jahren. Erst kürzlich wurde die Fan-Aussperrung etwas gelockert. Da ist es doch klar, dass die Ultras in die Arena wollen. Es gab nach der Katastrophe von Port Said die Abmachung, dass die Staatssicherheitskräfte durch private Ordner ersetzt werden sollten, um die explosive Lage in den Stadien zu entspannen. Aber daran hielt sich das Regime nicht. Da ist der Ärger der Fußballfans verständlich.
Warum ist das Verhältnis von Regime und Ultras so gespannt?
Die Einstellung der Fans ist: Es ist unser Recht, ins Stadion zu gehen. Daher stürmten einige wohl hinein – auch ohne Eintrittskarte. Es waren ja nur je 5000 von beiden Klubs zugelassen. Aber das berechtigt noch nicht die Gewalt seitens der Behörden. Das Regime hat ein Legitimierungsproblem und die Ultras sind die einzige öffentliche Stimme dagegen. Bis zu den Tumulten in Port Said vor drei Jahren hatten viele Ägypter eigentlich genug von militanten Fans, sie hatten einen schlechten Ruf, galten als Krachmacher. Aber weil die Staatsmacht damals so drastisch reagierte, schwenkte die Stimmung um. Der Status der Fans in der öffentlichen Wahrnehmung änderte sich, weil viele Ägypter merkten, wie wichtig sie als Sprachrohr sind.
Um was für Fans handelt es sich überhaupt? Einige Zamalek-Anhänger gelten als gewaltbereit, auch von Hooligans ist die Rede.
Der Begriff “Hooligans” trifft nicht ganz zu, besser wäre “politisierte Fans” oder “Ultras”. Als solcher kann man sich in Ägypten sogar mitunter offen ausdrücken – das ist in diesem Land keine Selbstverständlichkeit. Leider tun einige das auch gewaltsam. Fußball ist in Ägypten der letzte Ort, wo öffentliche Äußerungen überhaupt möglich sind. Es gibt sonst keine Räume zur freien Entfaltung, schon gar nicht für Meinungsäußerung gegen die Obrigkeit. Die Ultras waren zuletzt die einzigen, die das Regime deutlich bekämpften und kritisierten. Dafür haben sie in Port Said und auch diesmal in Kairo teuer bezahlt.
Welche Rolle spielt Fußball in Ägypten?
Ägypten ist ein total fußballverrücktes Land. Es gab letztes Jahr sogar eine Studie, die besagte, dass die Scheidungsrate gestiegen ist, weil Männer zu oft Fußball schauen. Die Menschen freuen sich mit riesigem Enthusiasmus aufs Wochenende: Da gibt es Fußball, da können sie sich amüsieren, ausgelassen und endlich frei sein. Die einzigen gebliebenen Nischen dafür waren lange Moscheen und Fußballstadien. Dann kamen die Ereignisse nach Mubaraks Entmachtung und auch der Fußball brach als Ort der Versammlung weg. Diese Sperre wurde jetzt erst langsam wieder gelockert.
Wie geht die Regierung damit um, dass Ultras sich frei äußern?
Für die herrschenden Kräfte ist das ein Dilemma: Die Entscheidungsträger wissen nicht, wie sie mit dem öffentlichen Aufbegehren umgehen sollen. Die Bedrohung durch freie Meinungsäußerung verstärkt sich durch Ultras, denn sie sind laut und sichtbar. Das Stadion wird durch sie zum politisierten Raum. Dagegen setzt sich der Staatsapparat mit aller Macht ein. Wie man sieht zur Not auch mit überzogener Gewalt.
Quelle: Süddeutsche Zeitung, 10. Februar 2015