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Fotos: Gezi-Park-Revolte, Istanbul, Juni 2013 → footballuprising
Update 02.01.2015 Die Hippie-Hools vom Gezi-Park → footballuprising
Von Ralf Heck (Interview und Fotos)
Das folgende Interview mit Cem von Çarşı wurde am 12. Juni 2013 in Istanbul während des Gezi-Park-Aufstandes geführt und in Blickfang Ultra 29 veröffentlicht.
1. Die Gruppe
Hallo Cem. Stell’ Dich doch mal kurz vor.
Ich bin Beşiktaş-Fan und gehe seit 1989 jedes Wochenende ins Stadion. Ich war auch bei allen Auswärtsspielen, aber mittlerweile bin ich 40 Jahre alt und etwas ruhiger geworden. Ich bin immer in der Kerngruppe gewesen, gehöre nun aber schon zur zweiten Generation von Çarşı.
Wie fing das an mit Çarşı?
Çarşı wurde von etwa 30 bis 40 Leuten im Jahre 1982 gegründet. Sie kamen alle aus Beşiktaş. Einer davon war Optik Mehmet. Optik war sein Spitzname, sein richtiger Name lautet Mehmet Işıklar. Er ist 2007 gestorben, was mich immer noch sehr traurig macht. Er war ein Linker und politisch sehr engagiert und er war Lehrer. Er ist ziemlich berühmt gewesen. Jeder in der Türkei, auch die Anhänger anderer Mannschaften, kannten ihn. Ja, so ist das Leben, aber Çarşı lebt noch weiter. Das ist eine Idee, die wir von ihm gelernt haben. Ziel der Gründung von Çarşı war es, das Team zu unterstützen und gegen andere Fans, vor allem gegen solche aus Vereinen wie Fenerbahçe und Galatasaray, vorzugehen.
Die Gründung verlief also in einer Zeit, in der das Militär die Macht in den Händen hielt…
Nach dem Militärputsch 1980 wurden die Jugendlichen durch den Staat zum Fußball kanalisiert. Anstatt sich mit der politischen Lage auseinanderzusetzen, sollten sie sich lieber mit Fußball beschäftigen. Das hat auch gut geklappt, bis ins Jahr 1993 hinein. Bis dahin gab es in der Türkei starken Hooliganismus auf der Straße, vor allem zwischen Anhängern von Beşiktaş und Fenerbahçe. Galatasaray war damals ein bisschen außen vor, weil sie etwas schwächer waren. Beşiktaş ging als Sieger aus den Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Hooligangruppen hervor, das kann man auch überall nachlesen.
Was passierte dann 1993?
In diesem Jahr wollten die Fans von den anderen Vereinen, Fenerbahçe und Galatasaray, mit uns Frieden machen und wir haben das dann auch im Park in Beşiktaş mit den anderen Gruppen beschlossen. Seit diesem Zeitpunkt gibt es keine so großen Schlägereien mehr. Es gibt zwar immer noch gewalttätige Auseinandersetzungen in der Türkei, im Allgemeinen laufen diese aber weit weniger heftig ab als damals. Das war ein evolutionärer Prozess von Hooliganismus.
Das heißt, ihr habt erkannt, dass es im staatlichen Interesse lag, Euch untereinander zu prügeln und deshalb Frieden mit den anderen Fangruppen geschlossen?
Nein, das war nicht der Grund. Als Çarşı 1982 gegründet wurde, waren die Leute um die 20 Jahre alt. 1993 waren sie älter und sind dadurch auch etwas ruhiger geworden. Sie hatten zu dem Zeitpunkt einfach mehr zu verlieren, deswegen wollten sie etwas mehr Ruhe haben und sich nicht mehr ständig untereinander schlagen. Die Jugendlichen haben aber noch eine Zeit lang weitergemacht. Der Staat hat in dieser Zeit auch seine Strategie geändert und seinerseits die Maßnahmen verstärkt, um den Hooliganismus einzudämmen und die Kontrolle in den Stadien wieder zu übernehmen. Man konnte sich nicht mehr so frei wie vorher bewegen und aufgrund der politischen Maßnahmen wurde es auch wesentlich gefährlicher.
In welchem Verhältnis steht die Kerngruppe zu den übrigen Fans?
Schon bei den Auseinandersetzungen in den 80er Jahren waren auch Leute aus anderen Bezirken dabei. Die sind dann in Gruppen von zwanzig Leuten nach Beşiktaş gekommen, um sich dort mit uns zu treffen. Danach ging es beispielsweise weiter zu den Auswärtsspielen nach Fenerbahçe und Galatasaray, um sich mit den anderen Fans zu schlagen. Mittlerweile ist Çarşı aber sehr groß geworden. Es ist nicht nur populär, sondern auch lebenswichtig geworden, in der Türkei und sogar weltweit. Die Kerngruppe besteht immer noch aus nur fünfzig Leuten aus Beşiktaş, aber bei einem Spiel sind wir insgesamt schon 4000 oder 5000 Leute.
Werden die Entscheidungen von der Kerngruppe gefällt?
Natürlich macht das die Kerngruppe, das ist bei allen demokratischen Organisationen so. Bei Parteien und auch bei illegalen Organisationen ist das so. Die Kerngruppe bestimmt, nein nicht bestimmt, aber sie beeinflusst die Entscheidungen.
Wurdet ihr denn gewählt?
Nein, wir sind nicht gewählt worden. Das läuft eher über Bekanntschaften und darüber, welche Leute man kennt. Wenn man beispielsweise die Gründer von Çarşı kennt…
…klingt nicht sehr anarchistisch…
Das ist eher ein Gefühl.
Wie läuft ein Spieltag eigentlich für Euch ab?
Die große Gruppe mit 5000 Leuten, manchmal sind es bis zu 10.000, trifft sich jede Woche vor dem Fußballspiel in Beşiktaş. Es gibt dort ein berühmtes Bierhaus, das heißt Kazan. Daneben liegt ein Park und dort treffen sich die Fans und dann marschieren sie um 19 Uhr gemeinsam ins Stadion.
Ihr habt das A in eurem Namen eingekreist. Handelt sich hierbei einfach um eine bei Ultras sehr beliebte Form der Abwandlung und dem Spiel mit bestimmten Symboliken…
Çarşı ist, glaube ich, die einzige Fanvereinigung auf der Welt, die das anarchistische A in ihrem Logo trägt. Deshalb wurde uns schon einige Male von der UEFA das Mitführen unserer Transparente verboten. Beispielsweise habe ich das schon bei einem Auswärtsspiel in Portugal erlebt. Im Jahre ’97 oder ’98 haben wir angefangen, eine wöchentliche Zeitschrift mit dem Namen Forza Beşiktaş herauszugeben. Das war das erste Fanzine in der Türkei, deren Redaktion ausschließlich aus Fans bestand. Ich selber hatte einen Uni-Abschluss, aber es waren viele Leute dabei, die die Schule sehr frühzeitig verlassen haben. Wir haben diese Zeitschrift dann gemeinsam gemacht. Das war eine coole Zeit. In dieser Zeit sind wir zum anarchistischen A gekommen, das muss Anfang 2000 gewesen sein.
Versteht ihr Euch auch als Anarchisten?
Von der Idee her bin ich Anarchist, aber ich lebe nicht so. In den 90er Jahren bin ich auch zu Schlägereien gegangen, aber mittlerweile habe ich mehr zu verlieren und kann das nicht mehr machen. Die Leute kennen mich inzwischen zu gut. Bei uns in der Kerngruppe gibt es einige wichtige Anarchisten. Andere wiederum wissen nicht so genau, was Anarchismus bedeutet. Diese sagen dann beispielsweise auch „Çarşı ist gegen alles – außer gegen Atatürk“. Das passt nicht mit der anarchistischen Philosophie zusammen. Es gibt bei uns einen ziemlichen ideologischen Mix, wie überall auf der Welt. Das anarchistische A gibt es mittlerweile seit 15 Jahren bei uns im Logo. Es stört niemanden und niemand kann es rausnehmen. Damit haben wir etwas geschaffen, das ich als großen Erfolg ansehe. In den 90er Jahren gab es in der Türkei eine rassistische Welle. Çarşı ist aber immer weiter nach links gerückt.
Das heißt, ein antirassistisches und linkes Selbstverständnis ist eher das verbindende Moment?
In unserem Bezirk Beşiktaş wird seit nunmehr mehr als 30 oder 40 Jahren die sozialdemokratische CHP gewählt. Hier ist es eher links. Es gibt Sozialisten, Anarchisten – das ist gute Tradition. Ich selbst bin kein Sozialdemokrat, aber ich finde es schon ok, sie statt faschistische oder religiöse Organisationen oder Parteien zu haben.
Wie setzt sich Eure Gruppe sozial zusammen? Von was lebt ihr eigentlich?
Die Kerngruppe bestand aus Leuten, die aus Beşiktaş kamen. Die meisten davon leben auch heute noch. Sie beschäftigen sich mit ihrem Viertel, haben dort Bars, arbeiten in Internet-Cafés und so weiter. Die Beşiktaş-Fans kommen eher aus dem Volk. Wir haben auch ein Transparent mit der Aufschrift: Beşiktaş, das Team aus dem Volk. Was bedeutet es also, aus dem Volk zu sein? Eher arm zu sein, eher zur unteren und mittleren Klasse zu gehören und eher links zu sein. Viele hochnäsige Fenerbahçe und Galatasaray-Fans sagen über uns: Da kommen die Beşiktaş-Fans, die auf der Straße leben und Drogen schnüffeln. Das stört mich irgendwie.
Was denkst Du über die anderen linken Fangruppierungen in den anderen Istanbuler Vereinen, beispielsweise Tekyumruk von Galatasaray?
Diese Gruppierungen haben sich aufgrund des Drucks, der von uns ausging, gegründet. Sie waren von Çarşı tief beeindruckt und darauf sind wir auch stolz. Wir stehen auch in Kontakt zu ihnen. Aber sie haben ziemlich große eigene Probleme in ihren Stadien, weil die großen Fangruppen von Fenerbahçe und Galatasaray sie unterdrücken. Wir gehen mit ihnen allerdings sehr respektvoll um. Wir unterstützen sie auch und beispielsweise kommen sie immer mit zu den 1. Mai Demonstrationen. Auch bei den gegenwärtigen Protesten, die mittlerweile seit 13 Tagen andauern, sind sie beteiligt. Irgendwie gibt es schon so etwas wie ein verbindendes Element zwischen allen Fans und ich könnte mir vorstellen, dass es nach diesen Protesten zu einer Istanbul-Union kommen könnte.
Gibt es eigentlich etwas Wichtigeres als Beşiktaş, Çarşı und Fußball in Deinem Leben?
Für mich? Ich gehe auch ganz gerne Angeln. Aber auch dort denke ich immer an Beşiktaş. Das kann ich nicht aus meinem Kopf herausbekommen. Ich lebe irgendwie davon. Meine Freundschaften haben alle mit Beşiktaş zu tun, das kann und will ich nicht aufgeben.
Gibt es besondere Erkennungszeichen von Euch, auch bezüglich des Supports des Vereins?
Das eingekreiste Anarchie-A ist unser Erkennungszeichen. Außerdem stellen wir all unsere Transparente selber her. Wir sind auch mit anderen Fangruppen befreundet, z.B. mit Adana Demirspor, Dıyarbakir, Altay und Sarıyer. Das zeichnet uns aus. Außerdem reagieren wir im Stadion immer sofort auf aktuelle politische Ereignisse. Wenn unter der Woche etwas geschieht, egal ob es sich hierbei um Themen wie Atomenergie handelt oder aber um Tier- und Umweltschutz, sind die Blicke der Medien am nächsten Spieltag auf die Kapalı-Tribüne gerichtet, dort wo die Leute von Çarşı stehen. Sie sind gespannt, welches Transparent diesmal ausgerollt wird. Am Montag kann man dann die Bilder in der Zeitung sehen.
Ist dir eine Aktion dabei in besonderer Erinnerung geblieben?
Zum 25. Gründungsjahr von Çarşı haben wir zusammen mit Greenpeace eine große Aktion gemacht. Ein paar Leute haben über Nacht im Stadion geschlafen und als das Spiel anfing, ein riesiges 50m² großes Transparent mit der Aufschrift „Keine Atomenergie in der Türkei“ entrollt. Das war ein richtiges Gänsehauterlebnis.
Wie reagiert der Verein auf derartige Aktionen?
Im Moment gibt es in unserem Vorstand drei oder vier Leute, die in den 70er und 80er Jahren in illegalen Organisationen der extremen Linken gekämpft haben. Die sind auch irgendwie stolz auf uns. Manchmal sagen sie schon etwas Kritisches, aber insgesamt ist unser Verhältnis gut. Sag mal, welcher Club würde nicht stolz darauf sein, wenn er eine Gruppe wie Çarşı haben würde, die beispielsweise den Lautstärke-Weltrekord beim Schreien hält? Eine Gruppe, die sich mit allen politischen Problemen in der Türkei beschäftigt, auch neben dem Fußball. Wäre Bayern München nicht stolz darauf? (lacht)
(Guckt gequält) Leider nein. Bayern versucht seine Ultragruppierungen einzuschränken und zu kontrollieren und ist damit keine Ausnahme in Deutschland. Bengalos sind in deutschen Stadien ebenfalls verboten…
…bei uns sind sie auch verboten, aber das gibt dann 5000 € Strafe. Was soll’s.
2. Fußball allgemein
Bei Bildern und Berichten aus türkischen Fußballstadion bekommt so mancher Fußballfan außerhalb der Türkei feuchte Augen. In Deutschland wird Fußball immer mehr zum Mittelschichtspektakel, auch wenn das immer noch sehr umkämpft ist. Gibt es bei Euch auch solche Tendenzen, beispielsweise durch Erhöhung der Ticketpreise, Bespaßung in der Halbzeitpause, Polizeirepression und so weiter?
Das ist irgendwie interessant. Çarşı mischt sich in alle möglichen politischen Dinge ein und macht beispielsweise Aktionen für Menschen- oder Tierrechte. Aber Çarşı sagt nichts über den Fußball in der Türkei. Das kritisiere ich auch schon seit längerem auf unseren Versammlungen. Deshalb gründen wir auch gerade einen neuen Verein innerhalb von Çarşı, der sich darum kümmern soll. Im Gegensatz zu diesem Verein ist Çarşı wesentlich hooliganistischer und eher als anarchistische Bewegung zu verstehen. Der neue Verein soll den Kontakt zum Club und zu den anderen Fangruppen halten, sich mit korrupten Schiedsrichtern beschäftigen und sich für billigere Ticketpreise und Trikots einsetzen. Fußball sollte unsere Hauptaufgabe sein, aber in dieser Hinsicht sind wir etwas schwach. Die Fans von Fenerbahçe haben schon gegen den ständigen CS-Gaseinsatz der Polizei mit einem Transparent protestiert. Wir protestieren auch, aber wir sollten dies unter einem gemeinsamen Dach tun. Das wäre etwas Neues für uns.
Kommen wir nochmal auf die Fußballfankultur in türkischen Stadien zu sprechen. In Deutschland werden die Kurven von den diversen Ultragruppierungen dominiert. Du lehnst diesen Begriff ab und würdest Dich eher als Hooligan bezeichnen. Weshalb denn eigentlich?
Was wir unter Hooligans in der Türkei verstehen, entspricht Eurem Verständnis von Ultras. Ultras sind für mich eher verdächtig, beispielsweise durch die Schriftzeichen, die sie verwenden. Sie erinnern mich an Nazischriftzeichen. Ultraorganisationen sind weltweit schon eher Nazis….
…in deutschen Stadien ist dies mehrheitlich nicht der Fall…
Ja, bei euch ist das anders. Aber hier verstehe ich unter Ultras eher Skinheads, Neonazis und Leute mit schwarzen Jacken.
Welche Rolle spielt der Rassismus? Die Pöbeleien von Fans durch das Zeigen von Bananen und das Imitieren von Affengeräuschen gegen Drogba haben international hohe Wellen geschlagen…
Bei uns im Stadion ist es in dieser Hinsicht am ruhigsten, weil wir ziemlich stark sind. Es gibt zwar kleine ultranationalistische Gruppen und Organisationen von 100 bis 200 Leuten, beispielsweise von den Grauen Wölfen. Sie schauen aber nur zu und sagen nichts. Sie fürchten sich vor Çarşı. Jeder weiß, dass wir gegen Nazis sind und für Umweltschutz und Gleichberechtigung eintreten.
Wie sieht es in den anderen Stadien aus?
In den anderen Stadien, bei Galatasaray und Fenerbahçe gibt es in dieser Hinsicht große Probleme. Das gehört aber nicht zu unserer Kultur, Affengeräusche zu imitieren und Bananen zu zeigen, das kommt vom Ausland….
Das klingt mir etwas verschwörungstheoretisch. Was meinst du damit?
Bananen zu zeigen ist ein ganz neues Phänomen, das es erst seit ca. vier Jahren gibt. Es hat hier schon immer schwarze Spieler gegeben und ich habe das vorher nie gesehen. Wenn die türkischen Fans beispielsweise bei Real gegen Barcelona sehen, dass dort Bananen gegen schwarze Spieler gezeigt oder geworfen werden, dann machen sie dies nach. Da die Medien ständig darüber berichten, wird es noch populärer, solche Symbole zu verwenden. Aber zumindest in unserem Stadion werden wir so etwas immer verhindern. Die Stimmung ist von Stadion zu Stadion unterschiedlich. Bursa beispielsweise sind unsere Hassgegner, vor allem die Teksas-Gruppe ist sehr rechtsorientiert…
Zwischen Euch und den Anhängern von Bursa ist es vor einigen Jahren auch zu heftigen Messerstechereien gekommen…
Die Anhänger von Bursa werfen uns vor, dass wir vor sieben Jahren unser Spiel gegen Rizespor verkauft hätten, wodurch ihr Verein letztendlich abgestiegen ist. Aber sie wären sowieso abgestiegen, es war schon längst zu spät für sie. Aber seit dieser Zeit schimpfen sie immerzu auf uns. Das macht uns auch wütend. Vor zwei oder drei Jahren sind sie dann trotz Verbots zum ersten Mal wieder zu einem Auswärtsspiel in unser Stadion angereist. Sie sind ungefähr mit zehn Bussen gekommen und wurden von der Polizei beschützt. Als unsere Fans davon mitbekommen haben, sind einige sofort im Stadion auf die Bursafans losgegangen. Dabei wurden dann auch einige von ihnen angestochen.
Wie findest Du das?
Das ist natürlich ein Problem, das muss nicht sein. Aber wenn ich mir dann anschaue, wie die Abgeordneten im Parlament aufeinander losgehen, dann kann auf der Straße alles passieren.
Ihr geht also mit Messern bewaffnet ins Stadion?
Manche ja. Das ist irgendwie die orientalische Kultur. In England und in anderen Ländern schlagen sie sich nur mit Fäusten. Sie nennen sich hier immer mutig, aber es ist nicht mutig mit Messern gegen andere vorzugehen. Mir gefällt das nicht. Eigentlich sind alle Schlägereien nicht gut. In den 80er und 90er Jahren hat das kein Ende genommen.
Das hört sich so an, als ob ihr auch häufiger in Konflikt mit der Justiz geratet. Sitzen auch Leute von Euch im Gefängnis?
Schon. Ja.
Wie sieht es mit der Beteiligung von Frauen in türkischen Stadien aus? Zumindest bei den Demonstrationen am Samstag auf dem Taksim-Platz gab es eine Menge weiblicher Fans in Fußballtrikots zu sehen.
Es gibt schon auch weibliche Adler, aber im Stadion sind Frauen eher seltener anzutreffen. Fußball ist hier immer noch eine männliche, patriarchale Angelegenheit. Leider! Bei den Demonstrationen kommen alle, die sich vom Çarşı-Gefühl angezogen fühlen. Auch viele weibliche Fans.
Dürfen Frauen denn bei Euch mitmachen?
Ja schon, aber wie gesagt, es gibt wenige, die eine aktive Rolle spielen.
3. Die Bewegung und (Anti-)Politik im Allgemeinen
Von den Tagen, seit denen ich hier bin, hat mich bisher der Samstag am meisten fasziniert. Die Massen auf dem Taksim-Platz, eine sehr kämpferische Frauendemonstration mit mehreren tausend Beteiligten, überall Zelte und Musik im Gezi-Park. Am beeindruckendsten war jedoch der Aufmarsch der Fußballfans, die mit ihren Trikots, Gesängen und Bengalos das Bild auf dem Platz dominierten…
Dass es zu solch einer Volksbewegung in der Türkei kommt, war für mich auch sehr überraschend. Fast in jeder Stadt gab es Demonstrationen und selbstverständlich musste Çarşı auch dabei sein. Vor zwei Tagen hat Çarşı dann eine Demonstration von Beşiktaş zum Taksim-Platz organisiert. Dabei sind dann 150 000 Leute mitmarschiert. Das war riesig. Drei, vier Tage haben die Beşiktaş-Fans dann nicht mehr geschlafen und sich mit der Polizei angelegt. Sie sind ja trainiert und wissen, wie das geht. Dass sie dann in den nächtlichen Auseinandersetzungen eine Planierraupe gekapert haben, um damit gegen die Wasserwerfer vorzugehen, war schon legendär. Die linken Fans von Galatasaray und Fenerbahçe sind dann auch gekommen, um uns zu unterstützen. Dann gab es auf einmal Istanbul United.
Habt ihr das organisiert?
Nein, das wurde nicht organisiert. Sie waren plötzlich da. Aber hinterher werden wir bestimmt ein Treffen mit den anderen Gruppen machen, um gemeinsam darüber zu diskutieren.
Wie sieht eure Beteiligung in der Bewegung außerhalb dieser spektakulären Formen aus?
Çarşı ist mit vier oder fünf Zelten und mit vielen Transparenten im Park vertreten. Fans aus dem ganzen Land, auch von anderen Vereinen, besuchen uns dort, um mit uns zu sprechen. Die Regierung soll jetzt endlich unseren Willen und unsere Forderungen akzeptieren. Die Gewerkschaften diskutieren ja auch gerade, ob sie streiken sollen. Das würde die Regierung noch mehr unter Druck setzen.
Habt ihr denn auch Verbindungen zu kämpfenden Arbeitern und Basisgewerkschaftern?
Nein, und das wollen wir auch nicht. Wenn so etwas wie jetzt im Gezi-Park passiert, dann machen wir dort selbstverständlich mit. Aber Çarşı will keine besondere Rolle spielen und auch keine Parteien oder Gewerkschaften beeinflussen. Wir sind Fußballfans.
Warum seid ihr hier an den Protesten beteiligt?
Es geht um Umweltschutz, dafür treten wir schon immer ein. Die fundamentalistische Regierung stört uns auch. Sie ist gegen die Freiheit. Sie ist eigentlich gegen alles. (Kurze Pause.) Wir wir. (Lacht.) Überall auf der Welt gibt es Probleme wegen Fundamentalismus, Nationalismus und Religion.
Diskutiert ihr auch über die derzeitigen Ereignisse bezüglich einer gemeinsamen Strategie?
Klar wird darüber diskutiert. Wir wollen bis zum Ende in der Bewegung dabei sein und unseren Beitrag leisten, uns dabei aber nie an die Spitze stellen und keine Linie vorgeben. Çarşı kennt keinen Rückwärtsgang, das gehört zu unserer Philosophie.
Eine massive Beteiligung von Fußballfans konnte man auch schon bei den Aufständen in Nordafrika, vor allem in Tunesien und Ägypten, beobachten. Ehemals zutiefst verfeindete Ultragruppierungen schlossen sich während der Revolte zusammen, um gemeinsam gegen Militär und Polizei vorzugehen. Inwieweit hat euch das beeinflusst oder habt ihr vielleicht sogar Kontakte dorthin?
Nein, wir haben eigentlich keinen Kontakt. Wir haben das zwar etwas über Twitter verfolgt, aus Kairo gab es beispielsweise auch Tweets mit „Wo ist Çarşı?“. Aber insgesamt haben wir vom sogenannten arabischen Frühling nicht so viel mitbekommen.
4. Ausblick und Perspektive der Kämpfe
Welche Perspektive siehst Du in der gegenwärtigen Bewegung?
Wie es weitergehen wird, weiß ich auch nicht. Auf jeden Fall müssen wir weiterhin gemeinsam zusammenstehen. Die Regierung muss die Bewegung ernst nehmen und auf ihre Forderungen eingehen. Ich denke, dass die Proteste noch eine Weile andauern werden. Gott sei Dank ist gerade erst Frühling. Es gibt ein Sprichwort in der Türkei, das lautet: Morgen wird nicht wie gestern sein.
Das Bündnis scheint mir aber recht fragil zu sein. In der Bewegung gegen das Erdoğan-Regime sind so unterschiedliche Akteure vereint wie beispielsweise türkische Nationalisten, kurdische Separatisten, Sozialisten und Queer-Aktivisten…
Wie du schon gesagt hast, sind viele unterschiedliche Gruppen beteiligt und das ist auch gut. Die Bewegung hatte anfänglich überhaupt nichts mit Kemalismus und Sozialdemokratie zu tun, sondern setzte sich für den Erhalt des Gezi-Parks ein und richtete sich gegen Polizei und Religion. Wir möchten auch nicht, dass sich beispielsweise Kurden durch die kemalistische Ideologie gestört fühlen. Die Kemalisten schaffen es nun aufgrund ihrer leeren Argumente schon seit elf Jahren nicht, die AKP-Regierung abzulösen. Sie hinken der Bewegung weit hinterher. Auf den Straßen kann man allerdings überall hören, wie die Demonstranten laut zusammen schreien: Schulter an Schulter gegen den Faschismus.
Welche Rolle werden die organisierten Fußballfans in den kommenden Revolten spielen?
Manu Chao hat doch so was mal gesagt: Die Revolution kommt aus dem Stadion. Oder? Wo viele Leute zusammenkommen, kann so eine Energie entstehen. Ich will den Fußballfans keine zu große Bedeutung beimessen, aber sie werden in den Bewegungen für den Kampf um Freiheit ihren Teil beitragen. In den Kämpfen lernt man. Einige haben vielleicht erst mal nicht den großen theoretischen Background, aber in den Bewegungen werden sie lernen, wogegen sie sind und warum diese Gesellschaft geändert werden muss. Diese Erfahrung machte ich auch schon an der Universität. Ihr seid ja auch hierherkommen, um zu verstehen, was hier abgeht. Zuerst gibt es einfach ein paar unpolitische Schlägereien rund ums Stadion, aber wenn diese Leute dann auf andere ehemals marginalisierte Gruppen stoßen, können sie sich gegenseitig befruchten. Das kann man gerade hier im Gezi-Park sehen.