Mit Kippa, Che und Regenbogen

Mit Marx, Gandhi und Che: Fans von Hapoel Katamon Jerusalem im StadionMit Marx, Gandhi und Che: Fans von Hapoel Katamon Jerusalem im Stadion (Foto: Hapoel Katamon Jerusalem)

Von Kevin Culina

Vor rund acht Jahren gründeten Fans eines israelischen Fußball-Erstligaclubs einen eigenen, kollektiv organisierten Verein.

Die Transparente zeigen Che Guevara, Hammer und Sichel, Fans schwenken Antifa- und Regenbogenflaggen, Parolen und melodische Gesänge hallen von den Rängen. Im etwas zu großen Teddy-Kollek-Stadion im Süden Jerusalems finden sich jede Woche mehrere Hundert Unterstützerinnen und Unterstützer ein, um bei schwarzem Tee und Nüssen ihre politische Überzeugung zu zeigen und ihren Verein – ganz im Wortsinne – zum Erfolg zu singen. Das führte in der vergangenen Spielzeit zum Aufstieg in die zweite israelische Fußballliga Leumit.

Aber ganz der Reihe nach. Der israelische Sport ist geprägt von mehreren großen Verbände, die aus politischen Strömungen der zionistischen Emigrantinnen und Emigranten vor und nach der Gründung des Staates resultieren. So organisierten sich die Anhänger der sozialistischen Arbeiterbewegung überwiegend in den gewerkschaftsnahen Hapoel-Vereinen, weswegen Hammer und Sichel das Logo zieren. Die bürgerlichen Religiöseren organisierten sich wiederum bei Maccabi und die sogenannten Revisionisten in den Beitar-Vereinen. Entsprechend groß und politisch sind seither die Auseinandersetzungen der Clubs und ihrer Fans untereinander – die Wahl des Sportvereins ist schließlich oft auch eine politische. Da drängen sich neben dem Selbstverständnis des Clubs vor allem Fragen nach kollektiven Organisationsformen und konkretem Engagement außerhalb des Stadions auf.

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Interview: Lieder der Revolte

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Von Florian Nussdorfer

Fußball ist Fußball und Politik ist Politik? Von wegen: In zahlreichen Ländern der Welt beteiligen sich Fußballfans und Ultras aktiv an Aufständen und Revolten. Der Blogger Ralf Heck hat sich intensiv mit dieser Thematik befasst und war unter anderem während der Gezi-Park-Proteste in Istanbul. Wir sprachen mit ihm.

Ralf, du hast dich intensiv mit der Beteiligung von Ultras an weltweiten Aufständen beschäftigt. Welche Beispiele gibt es für solch ein aufständisches Mitwirken von Ultra-Gruppierungen?
Da gibt es so einige: Angefangen vom Jahr 2008 bei der Dezemberrevolte in Griechenland bis hin zu den Unruhen in Bosnien-Herzegowina im Februar letzten Jahres konnte man eine große Beteiligung von Ultras beobachten. Darüber hinaus haben bei den Occupy-Protesten in Israel 2011/12, die sich vor allem gegen steigende Mieten richteten, die Ultras von Hapoel Tel Aviv mitgemischt. Recht berühmt für die Beteiligung von Fussballfans dürfte sicherlich auch der Aufstand in Tunesien sein, der ja als Anfang des arabischen Frühlings gilt und letztendlich eine ganze Welle weiterer Erhebungen in anderen Ländern ausgelöst hat. Dort haben Oppositionsgruppen im Vorfeld der Revolte Kontakt zu den Ultras aufgenommen, weil diese im Kampf gegen die Polizei erfahren waren. Die prominentesten Beispiele sind aber sicherlich die Aufstände in Ägypten, der Türkei und jene in der Ukraine, letzteres jedoch eher im negativen Sinn.

Inwiefern?
In der Ukraine haben die Ultras auch eine besondere Rolle gespielt, insbesondere bei den militanten Auseinandersetzungen mit der verhassten Polizei. Leider war die dortige Revolte, die sich gegen ein zutiefst autoritäres Regime richtete, eher reaktionär und nationalistisch geprägt. Zwar haben über 30 Gruppen aus den drei ersten Ligen ein Friedensabkommen geschlossen, um sich gemeinsam am Widerstand gegen das Regime zu beteiligen – unter anderem die Ultras von Dynamo Kiew, die Banderstadt Ultras aus Lwiw aber auch jene aus dem Osten des Landes. Allerdings haben sich viele Ultras dem Rechten Sektor und anderen nationalistischen Gruppen angeschlossen. Auch bei dem Angriff auf das Gewerkschaftshaus in Odessa, bei dem viele Menschen ums Leben kamen, waren sie zahlreich vertreten. Momentan organisieren Teile der Ultras die nationale Mobilmachung in den zahlreichen Rekrutierungszentren für den Bürgerkrieg im Osten.

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Sport unter Privatisierungsdruck (Übersetzte und gekürzte Version des Textes „The Gold Mine of the Next Revolution: Football as a Socio-Political Mirror, and Agent of Change“)

Im Folgenden ein lesenswerter Text von Roy Siny über die Fankultur in Israel, der uns von amaranto zur Verfügung gestellt wurde. Ich habe mir vor einiger Zeit nur wegen diesem einen Artikel das ansonsten langweilige – und teure – Buch Gesellschaftsspiel Fußball. Eine sozialwissenschaftliche Annäherung gekauft. Umso erfreuter bin ich, dass Euch dies Dank der tollen Übersetzungsarbeit der Kollegen von Ultra Unfug erspart bleiben wird. Hier geht’s zum Artikel: Sport unter Privatisierungsdruck

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Passend zum Freundschaftsspiel des SV Babelsberg mit Hapoel Tel Aviv am 12 Juli 2015 wurde in der Sonderausgabe des Ultra Unfug zum Ultrash Nr. 9 ein Artikel über die Besonderheiten in der Entwicklung des israelischen Fußball veröffentlicht. Wir dokumentieren an dieser Stelle den lesenswerten Text und möchten uns bei Roy bedanken, der ihn zur Verfügung gestellt hat.

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Von Roy Siny

Meine erste Erinnerung in Zusammenhang mit Fußball ist, das ich von meinem Vater bei einem Spiel in die Luft geworfen wurde. Es war, wie ich später erfuhr, nach einem Tor beim Derby zwischen Hapoel Tel Aviv gegen Maccabi. Ich war vier oder vielleicht fünf Jahre alt. Damals, in den frühen 1980er Jahren, war der israelische Fußball noch beinah unberührt von irgendeiner Art von Kommerzialisierung und die Spieler begannen erst zu verstehen, welche Vorteile es hatte, Profi-Sportler zu sein. Seitdem ist Fußball für mich nicht nur zur Leidenschaft, sondern auch eine Quelle der Identifikation geworden.

In meiner Klasse war ich einer der wenigen Hapoel-Fans unter all den Maccabi-Anhängern vom damals beliebtesten Verein in Tel Aviv. Ich war der enthusiastischste Anhänger von Hapoel. Damals reichte es, einfach nur ein Fan zu sein. Ich ging ins Stadion, entweder mit meinem Vater oder mit Freunden. Der Support wurde nicht organisiert. Wir alle wussten genau, welche Gesichter uns begrüßen und zum Singen ermutigen würden. Obwohl diese Leute kein Teil einer offiziellen Gruppe waren, wurden sie als nicht-offizielle Führer der Fans akzeptiert. Wir hatten Respekt vor ihren Opfern – denn sie verpassten die meisten Spiele, weil sie mit dem Rücken zum Feld stehend die Masse zum Singen animierten und so das Team unterstützten. Die Stadien waren damals halb leer. Wir wussten, welcher Teil der Traversen uns „gehörte“ und wir handelten dementsprechend. Die Wahl des Blocks war hierbei eher eine zufällige Entscheidung, die mehr von der Höhe des Eintritts als von allem anderen abhing. Gästefans im Stadion, sogar von den am meisten verhassten Teams, waren keine Seltenheit und eine Blocktrennung gab es nicht. Polizeikontrollen waren selten nötig und wenn es zu Auseinandersetzungen zwischen Fans kam, hatten die eher persönliche Hintergründe.

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Zurück an der Front. Fankultur im ehemaligen Jugoslawien

Folgender lesenswerter Artikel aus der aktuellen Ausgabe von Ultrash Unfug No. 9 wurde uns von den Babelsberger Kollegen zur Verfügung gestellt.

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Von Holger Raschke

Die Geschichte der jugoslawischen Fankultur ist eng verbunden mit dem Ende des Vielvölkerstaates, das in den blutigen Kriegen der 1990er Jahre mündete. Dies liegt vor allem auch an der zeitlichen Überlappung. Ansätze von Fankultur gab es bereits vor dem Zweiten Weltkrieg im ersten Jugoslawien der 1930er Jahre. Im sozialistischen Jugoslawien dauerte es jedoch bis zu den 1980er Jahren, ehe die italienische Ultra-Welle und Ingredienzien der britischen Fanszenen in die jugoslawischen Kurven schwappten und mit einer Portion Lokalkolorit eine faszinierende Fankultur hervorbrachten.

Im Gegensatz zu den Staaten des Ostblocks, die der UdSSR nahe standen, konnten sich Jugend- und Subkulturen im sozialistischen Jugoslawien relativ frei entfalten, was zu einer vielfältigen, subkulturellen Landschaft vor allem in den urbanen Zentren führte. Dazu gehörte auch die jugoslawische Fankultur, die vor allem von einer großen Rivalität insbesondere zwischen den großen Clubs Hajduk Split, Dinamo Zagreb, Partizan und Roter Stern Belgrad gekennzeichnet war. Die von jugendlicher Protestkultur und der Ablehnung der staatlichen Autoritäten beeinflussten Fanszenen waren hierbei besonders empfänglich für nationalistische Ideen, die im sozialistischen Jugoslawien von offizieller Seite unterdrückt wurden. Mit der schweren wirtschaftlichen und politischen Krise in den 1980er Jahren fanden nationalistische Einstellungen überall in der Gesellschaft verstärkten Zuspruch, sodass die Fankurven keinesfalls das alleinige Sammelbecken derartiger Strömungen darstellten. Aber im Unterschied zu anderen gesellschaftlichen Sphären konnten nationalistische Tendenzen im Stadion im Schutz der Masse leichter artikuliert werden. In den jugoslawischen Republiken Kroatien und Serbien versuchten nationalistische Politiker deshalb gezielter die Fußballfans für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Andererseits nahmen viele Fangruppen die Unterstützung gerne an und schlüpften in die Rolle der Speerspitze der nationalistischen Bewegungen. Das Klischee von den nationalistischen Fußballfans aus Jugoslawien ist dementsprechend weit verbreitet, aber auch unvollständig.

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Radio-Feature: Die Hippie-Hools vom Gezi-Park

Anlässlich des zweiten Jahrestages von Occupy Gezi das Radio-Feature Die Hippie-Hools vom Gezi-Park von Ralf Heck, James Steen und Bob Dilan für footballuprising.


Das Feature kann man auch hier direkt anhören, ohne Soundcloud.

D 2015 –  footballuprising – 14 Min.

Sommer 2013: Zehntausende Fußballfans der unterschiedlichen Klubs schließen sich dem Aufstand in der Türkei an: Die Supportergruppe Çarşı von Beşiktaş Istanbul vereinte sie in einer Demonstration gegen das Erdoğan-Regime – der größten, die während des Gezi-Park-Aufstandes stattfand.

Sommer 2015: Gegenwärtig sitzen 35 Mitglieder von Çarşı auf der Anklagebank aufgrund ihrer Beteiligung an der Revolte im Sommer 2013. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen Bildung einer kriminellen Vereinigung und Putschversuch vor. Lebenslänglich Knast droht ihnen bei einer Verurteilung. Doch welche Rolle spielte Çarşı bei den Protesten? Wie ticken ihre Mitglieder? Wurde der Aufstand einzig von einer brutal agierenden Polizei niedergeschlagen oder scheiterte er nicht vielmehr auch an den inneren Widersprüchen der Bewegung?

Diese und noch weitere Antworten liefert das folgende Feature.

Links zum Thema:
Artikel: Die Hippie-Hools vom Gezi-Park → footballuprising
Interview: Çarşı – Wir sind gegen Alles → footballuprising
Fotos: Gezi-Park-Revolte, Istanbul, Juni 2013 → footballuprising

Der kommende Spieltag, ein gekillter Fan in Polen und der Streik der Bahner

Update 01. Juni 2015 – Weitere Artikel von footballuprising zu diesem Thema:
Streiksupport im Fußballstadion
Nachbetrachtung und Richtigstellung: Ein toter polnischer Fan, ein beendeter Streik und (keine) klassenkämpferische(n) Ultras
Bratwurst oder Bambule?

Bildergebnis für klassenkampf

Das kommende Wochenende verspricht fußballerisch allergrößte Spannung. In den letzten Spieltagen der Saison werden Meister gekürt, Auf- und Abstiege besiegelt und in der 1. Bundesliga werden zusätzlich noch die Teilnehmer für die europäischen Pokalwettbewerbe ermittelt. Doch auch darüber hinaus könnte der kommende Spieltag an Brisanz gewinnen. Von der polnischen Fanszene gibt es einen an die Nachbarländer gerichteten Solidaritätsaufruf aufgrund des von einem Bullen getöteten Fans. Und auch der am Dienstag begonnene Streik der Lokführer sowie anderer Teile des Bahnpersonals wird mindestens indirekten Einfluss auf die An- und Abreisewege zehntausender Fußballanhänger haben. Ob sich die (organisierten) Fußballfans jedoch solidarisch zu den kämpfenden Arbeitern bei der Bahn verhalten, diesem Streik gleichgültig gegenüberstehen oder aber im Chor des Mainstreams gegen ihn krakeelen werden, bleibt abzuwarten.

Als der Streik des Zugpersonals letzten Dienstagmorgen begann, erinnerte ich mich wieder an folgende Zeilen: „Man muss nur Parallelen ziehen, unser Leben und unseren Alltag kritisch betrachten, sich einmischen und fortschrittliche Bewegungen und Proteste unterstützen […] Dann geht es nicht mehr um ein verlorenes Spiel oder eine wunderbare Choreografie, dann geht es um das Leben aller, die an diesem System (und damit an ihrem Leben) etwas ändern möchten.“ So stand es in dem kürzlich im Ultra-Fanzine Blickfang Ultra erst- und auf unserem Blog dann wiederveröffentlichten Text ULTRAS: Werte fürs Leben!. Die Aufstände der letzten Jahre – mit großer Beteiligung von Fußballfans in Ägypten, Brasilien sowie der Türkei – vor Augen, setzten sich die Verfasser mit dem Protest-Potenzial der hiesigen Ultraszene kritisch auseinander. Sie verhehlten auch nicht, wohin ihrer Meinung nach die Reise gehen sollte: „Wir müssen erkennen, dass wir unseren kritischen Blick im Bezug auf Kommerzialisierung, Polizeigewalt und (Vereins-)Politik nicht nur rund um den Fußball einsetzen.“

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RB-DEBATTE: KOMMENTAR UND ANTWORT

Plakat der Nürnberger Anhänger vor dem früheren Leipziger Zentralstadion - als Red Bull Arena Heimspielstätte von RB Leipzig.

Mein kurzer Kommentar zu einem Aktionsaufruf gegen RB hat etwas Staub aufgewirbelt und es gab sowohl zustimmende als auch empörte Reaktionen darauf. An dieser Stelle möchten wir auf die ausführliche und unbedingt lesenswerte Antwort von P. von Ya Basta! verweisen: RB-DEBATTE: KOMMENTAR UND ANTWORT

ULTRAS: Werte fürs Leben!

Blickfang Ultra stellte uns diesen lesenswerten Artikel aus der aktuellen Ausgabe zur Verfügung, den wir sehr gerne auf unserem Blog veröffentlichen.

Von ACAB – Freundeskreis

Um sowohl die vorangehenden, als auch die folgenden Ausführungen nicht falsch zu verstehen, möchte ich meinen Standpunkt kurz darstellen. Es ist gut, dass sich viele junge Menschen für das Leben als Ultrà entschieden haben. Die Ultràbewegung hat sich zu einer großen, ausdifferenzierten Jugendkultur entwickelt, die Woche für Woche grandiose Dinge auf die Beine stellt. Es passiert unglaublich viel in den einzelnen Städten, Stadien und Szenen. Die Ultràkultur ist kein gesellschaftliches Randphänomen mehr sondern ist mittlerweile auch der Mitte der Gesellschaft bekannt. Den größten Verdienst, den ich der Ultràkultur attestieren möchte, ist jedoch der, dass über die Jahre zehntausende junger Menschen interessante, abenteuerliche und augenöffnende Erfahrungen machen konnten, die sie ansonsten nie gehabt hätten. Das finde ich absolut wichtig und erhaltenswert. Trotzdem möchte ich versuchen einige selbstkritische und heikle Fragen aufzuwerfen, auf die jeder Ultrà selbst seine Antwort finden muss.

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»Die nächste Schlacht wird viel gewaltsamer«: Interview mit Philip Rizk und »Die Ordnung herrscht in Kairo«

Links zum Thema:
Zur Revolution in Ägypten – Interview mit einem ägyptischen Anarchosyndikalisten → Kosmoprolet
Arabischer Frühling im Herbst des Kapitals → Kosmoprolet
Postscriptum → Kosmoprolet

Von den Freundinnen und Freunden der klassenlosen Gesellschaft

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Die Ordnung herrscht in Kairo

Vor vier Jahren, als die Welt bereits unter einer unerwarteten Wirtschaftskrise ächzte, brachen im Norden des afrikanischen Kontinents Unruhen aus, die noch viel unerwarteter waren. Vorgeschichte und Verlauf dieser Unruhen werden in einem der zwei hier dokumentierten Gespräche mit ägyptischen Genossen geschildert. Es wurde 2011, ein paar Wochen nach der Absetzung des obersten Staatslenkers Hosni Mubarak, am Ort des Geschehens geführt, den eine revolutionstouristische Abordnung von uns aufgesucht hatte. Die Euphorie über die damals, so auch von uns im Titel der Erstveröffentlichung dieses Gesprächs, als »Revolution« bezeichneten Ereignisse war noch deutlich spürbar, aber es braute sich auch bereits erster Unmut über die von den Generälen besorgte Interimsregierung zusammen, die reihenweise unliebsame Zivilisten von Militärgerichten aburteilen ließ, während dem verhassten Ex-Staatschef kein Nachteil daraus entstand, dass seine Schergen während des Aufstands 800 Menschen getötet hatten. Dieser Unmut dürfte es vor allem gewesen sein, der 2012 der islamistischen Muslimbruderschaft bei den Präsidentschafts- wie Parlamentswahlen als vermeintlicher Alternative zum Ancien Régime einen klaren Sieg einbrachte. Als diese ebenfalls mit blutiger Repression nicht sparte, und die wirtschaftliche Misere des von Massenarmut gezeichneten Landes sich eher noch verschärfte, kam es im Sommer 2013 zu den größten Demonstrationen in der Geschichte Ägyptens, von denen flankiert erneut die Militärs die Macht an sich rissen.

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Die Hippie-Hools vom Gezi-Park

Links zum Thema:
Çarşı – Wir sind gegen Alles → footballuprising
Fotos: Gezi-Park-Revolte, Istanbul, Juni 2013 → footballuprising

Von Ralf Heck (Text und Fotos)

Lebenslänglich Knast wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung und Putschversuchs. So lautet zumindest die aktuelle Anklage der unter den Fittichen des Erdoğan-Regimes stehenden Staatsanwaltschaft gegen 35 Mitglieder der Istanbuler Supportergruppe Çarşı aufgrund ihrer Beteiligung an der Gezi-Park-Revolte im Sommer 2013. Und sie stellen damit keine Ausnahme dar. Durch die mehr als 90 eingeleiteten Verfahren, in denen knapp 6000 Menschen – teils unter abstrusen Vorwürfen bis hin zu „Bildung einer terroristischen Vereinigung“ – angeklagt wurden, folgt die Rache eines autoritären Systems auf die wochenlang andauernden Proteste nicht unbedeutender Teile der Gesellschaft.

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Besonders die Verfahren gegen Aktivisten des Protest-Koordinationsrates der Taksim-Solidarität und von Çarşı können dabei durchaus als geschickter Schachzug der Regierung gewertet werden, die diesen allgemein-gesellschaftlichen Aufstand, an dem sich mehr als eine Million Menschen beteiligten, so zum Werk einer putschistischen Bande von Verschwörern umzudeklarieren versucht. Ursprünglich als Unterstützergruppe für den Verein Beşiktaş Istanbul gegründet, steht diese Fanvereinigung, zumindest nach 1993, für weit mehr, als man es gemeinhin von Fußballanhängern erwarten würde. Seit vielen Jahren sind sie fester Bestandteil der 1. Mai-Demonstrationen, kritisieren den Rassismus in der türkischen Gesellschaft, standen den Erdbebenopfern in Izmit wie auch den Bergarbeitern beim Grubenunglück in Soma tatkräftig zur Seite und melden sich auch in anderen Angelegenheiten immer wieder lautstark zu Wort, beispielsweise gegen Tierversuche, Frauenunterdrückung, den Irak-Krieg und Atomenergie. Aufgrund des eingekreisten „A“ in ihrem Namen werden sie fälschlicherweise auch immer wieder als Anarchisten tituliert, doch obwohl sich ein nicht unbedeutender Teil tatsächlich so definiert, ist das politische Spektrum wesentlich breiter gefächert, was sich dann auch deutlich in ihrem Schlachtruf zeigt, den die einen mit „Wir sind gegen alles!“ angeben, ein anderer, größerer Teil jedoch um den Zusatz „Alles außer Atatürk“1 ergänzt. Ein Çarşı-Ultra beschreibt die politische Haltung wohl am besten: „Wir sind die einzigen sozialdemokratischen Anarchisten der Welt“.

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