Von Ralf Heck
Nanni Balestrini schrieb mit I Furiosi. Die Wütenden einen wunderbaren Roman über die Brigate Rossonere, die Ultras des AC Milan. Gut zwanzig Jahre später liefert das Berliner Künstlerduo Wermke/Leinkauf mit seiner Video-Installation im Maxim Gorki Theater im Rahmen des 3. Berliner Herbstsalons die Bilder und den passenden Soundtrack dazu.
Die Video-Installation 4. Halbzeit von Wermke/Leinkauf in Raum 5 beeindruckt. Trommeln und Blitzlichter im Dunkeln. Rhythmisches Klatschen bricht sich Bahn. Gesänge der fanatischen Fußballfans. Auf den beiden überdimensionierten LED-Bildschirmen werden gleichzeitig Filmschnipsel von Ultras aus den Fußballstadien und von Demonstrationen gezeigt. Während Balestrini sich zu Zeiten eines gesellschaftlichen Niedergangs nach dem Ende der Autonomia-Bewegung auf die rebellischen Fans eines Vereins beschränkt, beziehen Wermke/Leinkauf unterschiedliche Fangruppen mit ein und nähern sich dem Phänomen organisierter Fußballfans im Zusammenhang mit sozialen Aufständen an. Die Welt der glühenden Anhänger mit ihrer teils überbordenden Männlichkeit, dem Sich-Berauschen an den Farben ihres Vereins und ihrer bedingungslosen Gruppenidentität irritiert und fasziniert zugleich. Wie Balestrini stellen Wermke/Leinkauf dies lediglich dar, sie verurteilen nicht. Das changieren der Ultras zwischen Rebellion und Affirmation; zwischen Eigentor und Aufstand wird auch so mehr als deutlich.
Die Wahl eines rein ästhetischen Zugangs zum Phänomen Ultras – der sich vollständig auf einen bestimmten Aspekt ihrer Ausdrucksformen fokussiert – ist künstlerisch legitim, birgt für ein Verständnis des Gegenstandes jedoch problematische Züge. Durch die Konzentration auf die aggressiven und maskulinen Elemente bleiben andere, jedoch vielfältig vorhandene, Aspekte der Ultrakultur weitestgehend ausgeblendet. Augenscheinlich problematisch wird die Loslösung der Form vom Inhalt auch bei einem Cut, bei dem im direkten Anschluss an die ukrainischen Ultras die von Çarşı angeführten Fußballfans aus Istanbul folgen. Während erstere durch nationalistische und antisemitische Gesänge sowie Kooperationen mit dem Rechten Sektor von sich reden mach(t)en, mobilisierte die antirassistische Supportergruppe Çarşı während der Gezi-Park-Proteste die sich vorher spinnefeind gegenüberstehenden Fans der Istanbuler Klubs für einen gemeinsamen Marsch gegen das Erdogan-Regime – übrigens; anders als beim Support in den Stadien, unter großer Beteiligung von Frauen. Diese Momente werden in der Video-Installation der beiden Künstler – ob bewusst oder unbewusst – ausgeklammert. Unter dramaturgischen Gesichtspunkten mag dies gerechtfertigt sein. Für ein kritisches Verständnis von sozialen Aufständen und ihren Protagonisten wäre aber gerade die Herausarbeitung dieser Bruchpunkte, inhaltlicher Unterschiede sowie auftretender Widersprüche von Bedeutung. Trotzdem: Unbedingt sehenswert.
Veröffentlicht auch auf Lower Class Magazine und Kosmoprolet