Das große Interview mit Fanforscher Jonas Gabler

Von fanzeit

2014 war auch aus der Sicht der Fanszenen ein Jahr mit vielen positiven wie negativen Höhepunkten. So schlägt der Aufstieg von RB Leipzig große Wellen, Ultras aus u.a. Hannover und Hamburg boykottieren die Profimannschaften ihres Vereins und die HoGeSa-Bewegung gewinnt nicht nur an medialer Präsenz. Wir haben mit Jonas Gabler, Politologe, Buchautor und Fanforscher über die Geschehnisse und Entwicklungen in den Fanszenen gesprochen.

Jonas Gabler berichtet über die Vielzahl von Ultras in den Stadien

Jonas, du bist Fanforscher und hast deine Diplomarbeit sowie ein Buch dem Thema „Ultras“ gewidmet. Außerdem bist du an der Uni Hannover in der Kompetenzgruppe „Fankulturen und sportbezogene soziale Arbeit“. Wie kommt man als Politikwissenschaftler zu diesem Themengebiet? 

Wie viele, die sich damit wissenschaftlich beschäftigen, habe ich natürlich ein gewisses Maß Interesse am Sport und am Ereignis Fußball im Stadion. Ich gehe seit etwas mehr als zehn Jahren regelmäßig ins Stadion, nicht organisiert als Ultra, sondern mit meinem Freundeskreis. Mit meinen Leuten stand ich schon häufig in der Kurve.

Ein Forschungsinteresse entstand, als ich 2004/05 für ein Auslandssemester in Italien war – beim Spiel Inter Mailand gegen Sampdoria Genua, eines der spektakulärsten Spiele, die ich je gesehen habe, da Sampdoria bis kurz vor Schluss 2:0 führte und Inter in der 88., 91. und 94. Minute die Tore zum 3:2-Sieg schoss. Politisch hat mich an diesem Spiel interessiert, dass in der Nordkurve der Mailänder zwei Banner hingen, die folgende Geschichte zur Grundlage hatten: Paolo di Canio (Lazio Rom) hatte am Wochenende zuvor zwei Tore im Derby gegen AS Rom geschossen und diese mit dem „römischen Gruß“ gefeiert, der bei uns „Hitlergruß“ genannt wird. Nun wurde di Canio von den Inter-Fans mit den Spruchbändern „Ave di Canio, Mailand grüßt dich!“ und „Ehre di Canio“ gefeiert. Ich war darüber entsetzt, dass Spruchbänder für einen bekennenden Faschisten dort zur Schau gestellt werden konnten, ohne dass es thematisiert, geschweige denn entfernt oder verboten wurde.

Paolo di Canio zeigt den "römischen Gruß" 2006
Quelle: imago
Paolo di Canio zeigt den “römischen Gruß” 2006

So kamen mir Gedanken, wie sich der Umgang mit dem Thema Rechtsextremismus veränderte, denn ich wusste, dass es in Deutschland auch Zeiten gab, in denen rechtsextreme Symbole in den Stadien präsent waren.

Als ich drei Jahre später meine Diplomarbeit anmelden wollte, kam dieses Thema für mich direkt in Frage: Warum tauchen rechtsextreme Symbole in einer Fankurve auf, wie wird in einer Gesellschaft damit umgegangen und welche Faktoren begünstigen und behindern dies?

Als ich die Arbeit dann vollendet hatte und es um die Veröffentlichung ging, trat ein Verlag an mich heran, der die Diplomarbeit gerne publizieren wollte, jedoch ein komplettes Buch zu diesem Thema als weitaus interessanter empfand. Daraus entstand mein Buch „Die Ultras“, das ein populärwissenschaftliches Buch werden und dem „normalen“ Menschen die Fan- und Ultra-Kultur näher bringen sollte. Der Unterschied zu anderen Büchern, die bis dahin zum Thema Ultras erschienen waren, war, dass es keine konkrete Fragestellung gab oder rein wissenschaftlich geschrieben war, sondern eher einen Rundumschlag darstellte.

Durch Einflüsse der italienischen Literatur kam auch noch eine andere Seite der Bewegung zum Vorschein. Dort wird im Gegensatz zur deutschen Literatur über das Thema nicht nur defizitorientiert geschrieben, sondern der Fokus auch darauf gelegt, dass junge Menschen zusammenkommen und welche Potenziale in diesem gesellschaftlichen Phänomen liegen. Diese Seite der Ultra-Bewegung ist meiner Meinung nach oft verschüttgegangen, da sie oft nur als gewalttätig, diskriminierend und rechtsradikal – also als Problem – dargestellt werden.

Woran forschst du derzeit und wie muss man sich die Forschungsarbeit vorstellen?

Gar nicht so einfach, das in ein paar kurzen Worten zusammenzufassen. Meine Arbeitsgruppe, die Kompetenzgruppe Fankulturen und Sport bezogene Soziale Arbeit (KoFaS) an der Uni Hannover entstand durch die Finanzierung des Wissenschaftsministeriums Niedersachsen. Von 2012 bis Anfang nächsten Jahres haben wir eine Anschubsfinanzierung erhalten, um uns zu etablieren. Dies soll uns gelingen, indem wir Drittmittelprojekte an Land ziehen. Das heißt, wir müssen an Vereine und Verbände herantreten, die uns Aufträge geben. Das Problem ist, dass es sich dabei meistens nicht um langfristige Projekte handelt. Wir sind noch auf der Suche nach langfristigen Forschungs- oder Beratungsprojekten, die uns auch über das nächste Jahr hinaus über Wasser halten können.

Einer unserer bisherigen Schwerpunkte ist das Thema Dialog zwischen Fans und Verein. Denn Dialog ist nicht gleich Dialog, es geht darum Qualitätsstandards zu etablieren, damit dieser Dialog von allen Beteiligten – gerade auch den Fans – als sinnvoll erachtet wird.

Im Sommer 2012, also gerade noch während unserer Gründungsphase, ist der 1. FC Köln auf uns zugekommen und hat uns gebeten, den Dialog zwischen dem Verein und der organisierten Fanszene zu unterstützen, neu zu entwickeln. Das haben wir zwei Jahre lang gemacht, indem wir regelmäßige Sitzungen des vom 1. FC Köln eingerichteten AK Fankultur moderierten, um den Konfliktpartnern eine Annäherung zu ermöglichen. Außerdem war es unser Ziel, dass die Fans und der Verein miteinander kommunizieren und nicht weiterhin nebeneinander arbeiten.

Wir haben den Prozess moderiert, versucht einen Raum zu schaffen, in dem der Verein, Fanclubs und Ultras sachlich miteinander kommunizieren können. Dabei ging es darum, eine Konfliktkultur zu entwickeln, das heißt Wege zu finden mit Konflikten umzugehen, ohne dass es gleich eskaliert. Dazu gehört es, Unterschiede auszuhalten, aber andererseits auch Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten und zu unterstreichen. Am wichtigsten war im Nachhinein aus meiner Sicht, dass sich soziale Beziehungen entwickelt haben, die einen anderen Umgang mit Konflikten ermöglicht und die den Fans signalisiert: „Ihr werdet wertgeschätzt!“ Das trägt zur Identifikation mit dem Verein und letztlich zu einem verantwortlicheren Verhalten der Fans gegenüber ihm bei.

Bei Borussia Dortmund, wo wir seit Mitte 2013 tätig sind und wo vor allem mein Kollege Robert Claus engagiert ist, ging es um das Thema Antidiskriminierung und Umgang mit Rechtsextremismus. Dort beraten wir den Verein, wie er sich in diesem Thema besser aufstellen kann.

Und aktuell?

Das Projekt in Dortmund läuft aktuell noch und nebenbei gibt es natürlich auch das eine oder andere kleine Projekt. Zusätzlich müssen wir aber auch weitere Projekte akquirieren, um das Fortbestehen unserer Gruppe auf Dauer zu gewährleisten.

Im Moment begleiten wir das niedersächsische Innenministerium relativ eng. Der jetzige Innenminister Boris Pistorius ist bemüht, eine eher moderate Linie in Bezug auf die Geschehnisse rund um Fußball zu verfolgen. Er hat die Kampagne „Gemeinsam fair“ gestartet. Alle niedersächsischen Vereine und der niedersächsische Verband arbeiten mit dem Ziel zusammen, einen intensiveren Austausch zwischen den Fans, Fanbeauftragten, Fanprojekten und der Polizei zu gewährleisten. Wir beraten diese Aktivitäten (im Moment noch ehrenamtlich) und werden punktuell für Projekte im Rahmen dieser Kampagne finanziert. Zum Beispiel haben wir einen polizeiinternen Workshop konzeptioniert und moderiert, bei dem sich Polizisten verschiedener Dienstgrade und Aufgabenbereiche zusammen- und auseinandersetzten, wie ein Umgang mit Fans und Fankultur besser gestaltet werden kann. Der Grundgedanke dazu war, dass die Auseinandersetzung zu diesem Thema sonst meistens aus einer Art „Schützengrabenperspektive“ abläuft, d.h. wenn ein Gegner da ist, rückt man als Gruppe enger zusammen – da kommt Selbstkritik häufig zu kurz. Durch das andere Setting – Polizei muss sich intern mit der externen Kritik auseinandersetzen – kam es zu sehr überraschenden, selbstkritischen und aus meiner Sicht sehr positiven Ergebnissen.

Wir verstehen uns einerseits als Fanforscher, andererseits sind wir Berater und helfen den verschiedenen Akteuren. Und dann passiert so etwas wie „HoGeSa“ und plötzlich wollen dich alle als Experte hören.

In den letzten Wochen ist das Thema „HoGeSa“ in den Medien sehr präsent. Du als Fanforscher beschäftigst dich wahrscheinlich auch intensiv mit diesem Thema. Wie sind deine Eindrücke von der Entwicklung?

Diese „HoGeSa“-Demos gab es ja schon eine ganze Weile und ich habe das anfangs nicht sehr intensiv verfolgt. Die ersten Versammlungen waren auch nur Zusammenkünfte von ein paar Dutzend Leuten und mir tat sich die Frage auf, ob das wirklich Hooligans sind, die man ernst nehmen sollte, oder nicht vielleicht einfach nur Freaks, die mit dem Hooligan-Begriff spielen. Andererseits hatte sich ja schon abgezeichnet, dass es bundesweite Zusammenschlüsse von Hooligans gibt, die gewissermaßen „politisch“ aktiv werden wollen – wie z.B. dieses GnuHonnters-Netzwerk, über das der Spiegel schon vor Jahresfrist berichtete.

Das ist nun schon interessant und auch etwas beunruhigend, zu beobachten, wie die Vernetzung auf nationaler Basis vonstattengeht.

Dass es diese alten Hooligan-Gruppen noch gibt, hatte sich für mich allerdings schon vorher abgezeichnet. Mir war schon geschildert worden, dass sie mancherorts mehr oder weniger Druck ausüben und eine Gefahr darstellen können. Wenn sie z.B. jüngere Ultras bedrohen, wenn diese sich öffentlich gegen Diskriminierung aussprechen. Letztlich wurde darauf ja auch immer wieder von Fans und Ultras hingewiesen. Vor HoGeSa wurde sich dafür in der Öffentlichkeit aber weit weniger interessiert.

Kann man von einem Wiedererstarken der Hooligan-Szene sprechen und korrespondiert das mit den Entwicklungen in Aachen, Düsseldorf oder Duisburg, wo Hooligans gegen die Ultras des eigenen Vereins vorgehen?

Ich weiß nicht, ob man das so pauschal sagen kann und ich würde es nicht an der HoGeSa-Geschichte festmachen. Man muss zwei Entwicklungen getrennt diskutieren: Die Zunahme von gewaltaffinen Gruppen einerseits und die Vernetzung von extrem rechten Hooligans, die die politische Deutungshoheit in der Kurve beanspruchen und mit Bedrohungen und Gewalt durchsetzen.

Zu ersterem kann man glaube ich nicht verhehlen, dass es mancherorts nach längerer Zeit wieder Neugründungen von Hooligan-Gruppen gibt und/oder gewaltaffinere Ultra-Gruppen einen gewissen Zulauf erhalten.

Das ist für mich also ein Wiedererstarken der Gewaltbereitschaft, nicht der kompletten Hooligan-Szene.

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Serbischer Hooligan Ivan Bogdanov

Daneben gibt es eben die Beispiele von Bedrohungen und Übergriffen durch alte oder junge Hooligans gegenüber Ultra-Gruppen, die sich gegen Rassismus positionieren. Hier geht es um die politische Deutungshoheit, die sich diese Hooligans (zurück)holen wollen. Sicherlich kann man da nicht verallgemeinernd von einem bundesweiten Trend sprechen – aber es gibt die alarmierenden Beispiele.

Du forschst über aktive Fanszenen, Ultras und Hooligans. Die Begriffe werden jedoch (auch in den Medien) oft durcheinander gewürfelt. Wo liegt der Unterschied zwischen den Gruppen?

Ich würde die Aufteilung folgendermaßen sehen: Die aktive Fanszene ist ein Überbegriff und besteht aus den Ultras und den anderen „Allesfahrern“, die sich z.B. aus Fanclubs speisen. Auch bei sehr aktiven Fanclubs, die aber vorrangig bei den Heimspielen sind, macht es Sinn, sie zur aktiven Fanszene zu zählen. Dazu kommen – dort wo vorhanden – die Hooligans.

Insbesondere Ultras und Hooligans geht es darum, Reputation und Repräsentation für ihre Stadt, ihren Verein und ihre Fanszene herzustellen.

Den Unterschied zwischen Ultras und Hooligans kann man daran festmachen, dass Hooligans eine Fankultur darstellen, bei der dies über Gewalt und ein aggressives Auftreten hergestellt wird, z.B. durch das Auftreten in einem „Mob“ und die körperliche Auseinandersetzung.

Ultras sind hingegen eine Fankultur, die zur Herstellung von Repräsentation und Reputation auf ein breiteres Spektrum von Aktivitäten zurückgreift. Gewalt kann dazugehören, aber üblicherweise erreichen sie dies durch eine gute Stimmung im Stadion, d.h. ein lauter Support mit hoher Mitmachquote. Oder geht es um einen individuellen Stil mit eigenen Liedern, besonders schöne Fahnen, das beste Intro und mehr. Ultra-Gruppen definieren sich aber auch über soziales und karitatives Engagement, Publikationen und Videos, die sie über das Internet verbreiten, über Graffitis, ihre Mitwirkung im Verein bis zur Gründung ihres eigenen Vereins.

Die Gewalt kann auch ein Teil ihres Tuns sein und genau hier ist die kleine Schnittmenge zu den Hooligans. Jedoch entscheidet jede Ultra-Gruppe für sich, wie sie ihre Rolle interpretiert und wie sie Reputation für sich und den Vereins erreichen will. Es gibt auch einen Teil der Ultra-Szene, der sich dahingehend ausdifferenziert, dass Gewalt für ihn an Bedeutung gewinnt und andere Dinge dafür in den Hintergrund rücken.

Sind bezüglich der Gruppierungen in den letzten Jahren besondere Veränderungen zu beobachten?

Es gibt für mich mehrere parallele Entwicklungen. Der Kampf gegen Diskriminierung hat sich in den letzten Jahren auf jeden Fall ausgeweitet. Vor zehn Jahren war es noch relativ undenkbar, dass sich eine bedeutende Gruppe in einer Fanszene gegen Homophobie und Sexismus engagiert. Heute gibt es da schon mal ein paar. Das ist auf jeden Fall ein Modernisierungstrend. Andererseits gibt es aber auch die gegenteilige Entwicklung. Ein Teil der Ultra-Szene identifiziert sich durchaus mehr mit dem Tun der Hooligans und hat einen positiven Umgang mit der gewaltbereiten Fanszene.

Wichtig ist die Beobachtung der Ausdifferenzierung in der Ultra-Szene. Früher, als die Ultrabewegung noch jung war, war sie eher damit beschäftigt, sich überhaupt in der jeweils eigenen Fanszene zu etablieren. Heute wo das fast überall gelungen ist und die Ultras dominieren, kommt der Binnendifferenzierung eine größere Bedeutung zu. Das heißt heute findet innerhalb der Ultraszene eine Ausdifferenzierung statt. Ich mache das gerne an fünf Konfliktlinien fest:

Erste Konfliktlinie: Wie werden Entscheidungen getroffen? Hierarchisch oder basisdemokratisch. Wie viel Raum wird der basisdemokratischen Entscheidungsfindung eingeräumt – damit verbunden ist die Frage nach dem Mitgliedermodell: offen oder geschlossen?

Die zweite Konfliktlinie bezieht sich auf den akustischen Support: britischer, also eher spielbezogener, Stil vs. italienischer oder lateinamerikanischer, also eher melodiöser Stil. Wobei das vielleicht nicht die ideale Beschreibung ist. Man könnte auch nach Masse vs. Klasse unterscheiden, das heißt will man mit einfachen Gesängen und „Klassikern“, eher die Masse mitziehen, oder einen individuellen, innovativen Stil mit mehrstrophigen Gesängen prägen, der weniger massenkompatibel ist.

Dritte Konfliktlinie: Gewaltorientierung vs. Ablehnung von Gewalt. Bzw, allgemein formuliert: Was für eine Haltung wird zu Gewalt eingenommen und welcher Stellenwert wird ihr eingeräumt?

Die vierte Linie beschreibt das Verhältnis zum Rest der Fanszene: Ist man fanszenenorientiert – also an einer vereinigten und zusammenhaltenden Fanszene interessiert und stellt einen breiten Konsens her – oder man ist gruppenorientiert, macht also sein eigenes Ding in der Gruppe und grenzt sich ggf. sogar von anderen Gruppen in der eigenen Fanszene ab?

Die fünfte Konfliktlinie fragt nach dem Verhältnis zu Diskriminierung und Anti-Diskriminierung: Wie positioniere ich mich zum Thema Diskriminierung und welche Arten von Diskriminierung sind für die Gruppe tabu? Wie geht sie mit Diskriminierung um – duldet sie sie oder verhält sie sich sogar offen diskriminierend?

Natürlich gibt es jeweils zwischen diesen beiden Polen viele Positionen, die eine Gruppe beziehen kann, also nicht entweder – oder. Bei den meisten ist es irgendwo dazwischen. In jedem Fall gilt aber: Fast jede Gruppe hat zu diesen fünf Konflikten eine Haltung entwickelt. Jede macht das auf ihre eigene Art und Weise. Dadurch kommt es zu Konfliktsituationen innerhalb der Szenen und letztlich kommt es zu Neugründungen, Ausgründungen. Das können dann aber auch Entwicklungen sein, die sich widerstreben, denn auch in einer großen Ultragruppe kann es kleine Grüppchen geben, die ihr eigenes Ding durchziehen wollen.

Stichwort Ultras: In den Medien werden sie oft negativ dargestellt, z.B. durch Schlägereien oder Einsatz von Pyrotechnik. Positives liest man eher selten. Warum sind Ultras aber so wichtig im deutschen Fußball?

Ich glaube, dass die Ultras schon ihren Anteil daran haben, dass die Bundesliga zuschauertechnisch eine der erfolgreichsten Ligen in Europa ist. Hier ist es gelungen, sichere Stadien zu schaffen, d.h. Orte, an denen sich jeder sicher und wohl fühlt. Sonst würden nicht so viele Besucher in die Stadien strömen. Trotzdem hat man ein kleines Reservat aufrechterhalten können – ein Reservat der Fankultur auf den Stehplätzen oder Plätzen mit freier Platzwahl, das dem großen Rest der eher passiven Stadionbesucher das Gefühl gibt, noch authentische Emotionen und Stimmung zu erleben. Sie bilden die Kulisse für das Fußballerlebnis jenseits des sportlichen Events auf dem Rasen. Die Zuschauer wissen, dass sie eine Show geboten bekommen, egal ob ihr Team gewinnt oder verliert.


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Choreographie des MSV Duisburg

Fankultur hatte aber auch schon immer ihren Anteil an der Faszination Fußball. Heute ist es interessant zu sehen, wie die Ultras auf die modernen Entwicklungen eingegangen sind. Wenn man zu einer anderen Sportart geht, gibt es auch dort eine Art „Vorsänger“, der die Zuschauer animiert, ein Animateur, meistens also ein bezahlter Stadion- oder Hallensprecher.

Selbst beim Fernsehen wird wohl vorgegeben, wann applaudiert werden soll. Ich war zwar noch nie bei „The Voice of Germany“, aber ich kann mir vorstellen, dass jemand anzeigt, wenn Stimmung gemacht werden soll. So funktioniert halt Unterhaltungsindustrie.

Das Absurde ist, dass die Ultras es aus eigenem Antrieb machen, also die Stimmung im Stadion selbst organisieren. Sie haben damit auch darauf reagiert, dass die Atmosphäre in den Stadien in der Vergangenheit offensichtlich schlechter wurde und das Publikum mehr Choreographie und Anleitung braucht. So werden alle im Stadion aktiv. Andererseits ist die Choreographierung der Stimmung durch Ultras zweifellos authentischer als durch einen Stadionsprecher oder bezahlten Animateur.

Welchen Anteil würdest du der Ultra-Bewegung daran zuschreiben, dass rechte Ideologien in den letzten Jahren (bis zuletzt) offenbar immer weniger Platz im Stadion gefunden haben?

Auf jeden Fall einen sehr großen. Das ist eine der zentralen Thesen meiner Diplomarbeit. Die Ultra-Kultur ist nicht per se ein immunisierendes Mittel gegen rechte Ideologien; das Gegenteil kann auch der Fall sein.

Wie das Beispiel Italien zeigt, kann sich die Szene auch verändern. Entstanden aus einer links geprägten, studentischen Arbeiterkultur, erfuhr die Ultra-Szene in den 80er Jahren den „turn over“  und verwandelte sich an vielen Standorten eher in eine rechtsgerichtete Bewegung.

In Deutschland hat aus meiner Sicht die Ultra-Kultur aber maßgeblich dazu beigetragen, die vorher bestehende stark nach rechts offene bis rechtsextreme Fankultur zu verdrängen. Und auch dabei spielt die Choreographierung eine wichtige Rolle. Wenn in einer Kurve mit 4.000 Leuten 20 „Fans“ ein Lied anstimmen können (z.B. ein antisemitisches wie das „U-Bahn-Lied“), machen sie das aus der Anonymität heraus. Vielleicht singen dann aus der Dynamik heraus auch noch die anderen knapp 4.000 mit – das konnte früher schon passieren. Wenn da vorne aber ein Vorsänger steht, kann er nicht aus der Anonymität agieren, sondern ist verantwortlich und identifizierbar. Daher haben die Ultras die Verantwortung dafür übernommen, was in der Kurve gesungen wird und was nicht. Sie haben sich mit der Zeit Gedanken darüber gemacht, dass sie antisemitische, rechtsradikale Gesänge und Schlachtrufe nicht anstimmen wollen; also 95 %, vielleicht sogar 98 % der Ultra-Gruppierungen in Deutschland. Heute ist es so: Wenn ein Grüppchen von 20 Leuten in einer Fankurve anonym solche tabuisierten Lieder anstimmen will, gibt es einen Vorsänger, der einen Fangesang anstimmt, die eigene Mannschaft anfeuert und die 20 Neonazis damit übertönt.

Nach wie vor gibt es natürlich Rechtsextremisten in den Stadien. Sie bekommen aber nicht mehr die Bühne, die sie früher hatten, da die Ultras die Choreographierung der Kurve übernommen haben.

Wird Politik in Zukunft eine größere Rolle spielen, politisiert sich die Fanszene derzeit und ist daraus eine Entwicklung abzulesen?

Das glaube ich eigentlich nicht. Aber: Es ist schwierig, Voraussagen zu treffen. Insgesamt ist der Trend in Deutschland so, dass man von einem offenen Bekenntnis zum Rechtsextremismus in Form von Symbolen weggekommen ist. In den 80er und 90er Jahren waren Symbole wie die Reichskriegsflagge oder „Sieg-Heil“-Slogans sehr präsent. Das ist heute auf jeden Fall sehr viel weniger geworden.

Weit verbreitet ist die Auffassung, dass Politik im Fußball nichts zu suchen hat. Diese Meinung ist aber teilweise auch ein Mittel bzw. ein Argument, antidiskriminierendes Engagement unter den Mitgliedern der Ultras und der Fanszene zu unterbinden und zu verdrängen.

Aber ich glaube, dass jenseits dieses Konfliktes der Umgang mit Diskriminierung zu einem gesellschaftlichen Engagement geworden ist, das als selbstverständlich angesehen wird. Es gibt den Gleichbehandlungsgrundsatz, dass niemand aufgrund der Religion, des Geschlechts, sexueller Identität, Herkunft, Alter usw. diskriminiert werden darf. Das ist heute gesetzliche Grundlage. Die Auffassung, dass Antidiskriminierung kein Gegenstand einer politischen Haltung, sondern eine Selbstverständlichkeit ist, setzt sich durch.

Banner aus der Bezirksliga
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Banner aus der Bezirksliga

Dennoch: Der Konflikt – was tolerieren wir und was nicht – wird im Fußball aufrechterhalten bleiben, aber man sollte das nicht überbewerten und damit faktisch sagen, dass dort um politische Auseinandersetzungen geht. Ich denke vielmehr: Auch im Stadion werden gesellschaftliche Themen verhandelt, die die Gesellschaft auch allgemein beschäftigt. Diskriminierung und Anti-Diskriminierung ist ja ein Thema, das insgesamt gesellschaftlich relevant ist.

Ich glaube man kann nicht von einer massenhaften Politisierung – zum Beispiel durch Rechtsextreme – sprechen: Auch wenn es solche Gruppen gibt, ich denke, es ist unrealistisch, dass diese Gruppen ganze Stadien oder Fanblöcke zu politischen Aktivisten machen, aber Fanblöcke und Kurven können sehr wohl als Kontakthof dienen. Man geht dort als Fan hin, man ist auch Fan. Ich bin auch nicht der Meinung, dass Rechtsextreme die Fankurven unterwandern; sie unterwandern diese nicht, sie sind einfach da, sie sind auch Fußballfans. Aber sie lernen dort Leute kennen und bekommen mit, wer ideologisch anschlussfähig wäre. Dann nehmen sie diese Personen zu anderen Veranstaltungen mit. Das sind dann Events, auf denen sie wirklich politisch gefestigt werden können – wie z.B. Rechtsrock-Konzerte. Das heißt: Die Kontaktaufnahme findet beim Fußball statt, die politische Rekrutierung aber außerhalb der Stadien. Dieser Tatsache müssen sich die Vereine und der Fußball bewusst werden. Man kann dagegen etwas tun, indem man sich positioniert, indem die Vereine selber die Verantwortung übernehmen und eine Sensibilisierung innerhalb der Fanszene fördern. Z.B., indem er Fans unterstützt, die sich in dieser Richtung engagieren. Dadurch beugt man auch einer Verbreitung von Elementen rechtsextremer Ideologie – z.B. Rassismus und andere diskriminierende Haltungen – vor. Das kann nämlich im Rahmen von Fußballfankultur anders als eine Rekrutierung für politischen Aktivismus durchaus gelingen. Ich bin der Meinung, dass gerade Borussia Dortmund in den letzten zwei Jahren – auch dank unserer Beratung – in dieser Hinsicht wirklich eine positive Entwicklung gemacht und sich positiv positioniert.

Aber ich will Politisierung nicht auf die Einflussnahme und Rekrutierung durch Rechtsextreme reduzieren. Die Frage ist, wie positionieren sich die Ultra-Gruppen allgemein zu politischen Fragen. Da geht der Trend mehr in die Richtung, dass die meisten Ultra-Gruppen und Fanszenen folgende Position vertreten: Wir dulden gerade so viel Politik, wie es uns unmittelbar betrifft. Alles, was darüber hinausgeht, macht man vielleicht punktuell mit, wenn es z.B. gegen Überwachung oder um die Kennzeichnungspflicht für Polizisten geht. Da solidarisiert man sich ggf., aber darüber hinaus passiert keine massenhafte Politisierung.

Das schließt jedoch nicht aus, dass einzelne Ultras nebenbei auch politisch aktiv werden. Darin sehe ich aber auch ein durchaus positives Potential, denn ich glaube, dass Ultras sich verhältnismäßig viel mit gesellschaftspolitischen Themen auseinandersetzen und dadurch in diesem positiven Sinne politisieren. Es entsteht ein allgemeines Interesse an gesellschaftspolitischen Themen und vielleicht mündet das im weiteren Leben in einem Engagement in politischen Initiativen, Bürgerinitiativen oder auch Gewerkschaften, u.s.w.

Zudem wird der Fußball ohnehin immer politisch instrumentalisiert – bei einer WM-Vergabe, wenn Angela Merkel in der Kabine Hände schüttelt oder wenn ein Lokalpolitiker sich im Wahlkampf schnell den Fan-Schal umschmeißt und sich im Stadion ablichten lässt. Auch Parteien nutzen den Fußball, wie z.B. die NPD, die sich den Fanszenen anbiederte, als es um die Sicherheitsdebatte ging. Gerade deswegen gibt es vielleicht eine so große Abneigung unter Fußballfans gegenüber der Politik. Solange der Fußball aber so populär ist, wird es Versuche geben ihn zu instrumentalisieren. Das ist in jeder Gesellschaft so und in anderen Ländern sogar noch stärker ausgeprägt, denke ich.

Wie schätzt du den Boykott der Hannoveraner und Hamburger Ultras ein? Waren das Einzelfälle oder eine vorübergehende Aktion oder müssen wir in Zukunft vermehrt damit rechnen, dass Ultra-Gruppen sich zurückziehen oder ganz das Handtuch werfen?

Die beiden Gruppen sind auf jeden Fall nicht die Ersten, die dieses Mittel in Anspruch nehmen. Bei Chemie Leipzig hat das ja schon vor ein paar Jahren stattgefunden; nicht aus den gleichen Gründen, aber dort wurde ja auch ein eigener Verein gegründet, der heute von den Ultras getragen und unterstützt wird.

Ich kann mir schon vorstellen, dass es so etwas im Sinne einer Ausdifferenzierung der Ultra-Szene immer wieder und auch anderswo geben wird. Aber es wird zugleich auch immer Leute innerhalb der Szene geben, die damit nichts anzufangen wissen und dann trotzdem weiterhin in den Bundesliga-Stadien bleiben. Irgendeine Form von Fankultur etabliert sich dort dann von Neuem; ob man das dann Ultras oder anders nennt, ist erst einmal nebensächlich.

Es entspricht vielleicht auch nicht dem, was vorher war, aber irgendeine Art Fankultur entsteht immer – zumindest so lange, wie drei Voraussetzungen gegeben sind: 1. Dass es Bereiche gibt, in denen freie Platzwahl herrscht und in denen gestanden wird – also idealerweise Stehplätze. 2. Dass bestimmte Fanutensilien, also Fahnen, Megafone und Trommeln gestattet sind. 3. Dass es ein Kartenkontingent gibt, dass es jungen Menschen ermöglicht, zum Fußball zu gehen. Solange es gelingt, diese drei Mindestvoraussetzungen aufrechtzuerhalten, wird es eine aktive und jugendlich geprägte Fankultur geben. Vermutlich wird auch die in Zukunft mit immer weiteren Einschränkungen leben müssen, aber auch diese Fankultur wird in Mittel und Wege finden, sich ihre Freiräume zu bewahren.

Hannover-Fans mit Protest gegen Präsident Kind
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Hannover-Fans mit Protest gegen 96-Präsident Kind

Es wird also immer Leute geben, die sich bemühen werden, die bewährten Ausdrucksformen der Ultras zu übernehmen und weiterzuführen.Auch ein Neubeginn wäre möglich, denn die Selbstorganisation ist eine Konstante in den Fankultur der vergangenen Jahrzehnte; es wird immer jemand nachkommen. Junge Menschen sehen nach vielleicht drei bis vier Jahren Stille im Stadion, dass andere Vereine jemanden haben, der koordiniert, organisiert und anstimmt und denken sich, dass sie das auch wollen. So war es auch in den 90er Jahren, als die ersten Ultra-Gruppen entstanden – eine Szene ist vorangegangen (es wird oft von den Frankfurtern geredet), danach ist sie irgendwo aufgetaucht und die anderen haben zugeschaut, sich dann selbst organisiert, um dem nachzueifern.

Die Hannoveraner und Hamburger boykottieren, weil sie mit bestimmten Idealen angetreten sind und diese nicht mehr verwirklicht sehen. Die Hamburger z.B. begreifen sich als Ultras des Vereins. Sie gehen ja immer noch zum Fußball, aber zur dritten Mannschaft oder gründen ihren eigenen Verein.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass in fünf oder zehn Jahren eine neue Generation von Fans da sein wird, die sich damit arrangiert, dass sie beim HSV eine ausgegliederte Mannschaft haben.

Die Hannoveraner haben das von Anfang an gemacht. Für sie waren der Knackpunkt und damit die Entfremdung vom Verein durch einen anderen Punkt erreicht (Präsident Kind).

An diesen Beispielen zeichnet sich aber auch ab: Fankultur differenziert sich auch dahingehend aus, dass sie sich Nischen sucht, in denen es noch Freiheiten gibt, die im Profifußball nicht mehr gegeben sind. Ich glaube, auch dieses Modell hat Zukunft und macht vielleicht manches unterklassige Fußballspiel in Zukunft ein Stückchen attraktiver.

Gibt es signifikante Unterschiede zwischen den großen Fanszenen in Ost und West? Vielen großen Fanszenen im Osten eilt ein zweifelhafter Ruf voraus. Zu Recht?

Das finde ich schwierig. Wenn man Ost und West unterscheidet, spricht man automatisch von Fanszenen aus unterschiedlichen Ligen. Aktuell spielen drei Vereine (Union, RB Leipzig und Aue) aus Ostdeutschland in der zweiten Liga, alle anderen unterklassig. im Gegensatz dazu sprechen wir über westdeutsche Fanszenen meist im Rahmen der ersten und zweiten Bundesliga. Was ich als großen Unterschied sehe, ist, dass unterklassige Vereine in Ostdeutschland eine weitaus größere Anhängerschaft besitzen als ihre Kontrahenten aus den alten Bundesländern. Ich glaube, dass im Osten die Identifikation mit dem Verein über die Szene eine größere Rolle spielt. Da sind Dresden oder Rostock herausragende Beispiele: Der K-Block in Dresden oder die Südtribüne in Rostock sind bei Heimspielen ein zusätzliches Attraktivitätsmerkmal, der das Fußballspiel als Event mitgestaltet.

Und sind sie zweifelhaft im Bezug auf politische Gesinnung oder Gewaltbereitschaft?

Ich weiß nicht, ob es etwas mit Ost oder West zu tun hat, eher mit gewachsenen fankulturellen Traditionen. Möglicherweise hat das auch etwas mit den Himmelsrichtungen zu tun. Der Einfluss der polnischen Fankultur ist in Dresden und Rostock natürlich höher als z.B. in Köln. Dort kommt der Einfluss vielleicht eher aus Frankreich und sie orientieren sich an Paris (obwohl in Paris gewaltmäßig auch Einiges abging).

Eine Sache sollte man bedenken (wobei ich es nicht darauf reduzieren will): In Bezug auf Gewaltbereitschaft kommt es auch darauf an, ob die Akteure etwas aufs Spiel setzen, ob sie etwas zu verlieren haben. Betrachtet man die Ultra-Kultur in Italien, haben besonders die Leute in Süditalien meist nichts zu verlieren, wogegen die Ultras in Deutschland meist der Mittelschicht entstammen. Wenn sie eine Vorstrafe oder eine Gefängnisstrafe bekommen, dann setzen sie möglicherweise ihre berufliche Karriere aufs Spiel. Daher ist aus meiner Sicht in Deutschland die Ultra-Kultur noch eher ein jugendkulturelles Phänomen; nicht ausschließlich, aber vorwiegend. Das prägt dann auch das Bild der Szene.

Würde man sagen, dass die Perspektiven im Osten nicht so gut sind wie im Westen, könnte man das als Vergleich heranziehen. In Dresden und Rostock sind die beruflichen und Lebensperspektiven wahrscheinlich gar nicht so schlecht, dafür aber im Umland der Städte, was auf jeden Fall auch eine Wirkung auf die jeweilige Fanszene entfaltet.

Auch die Zeit Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre spielt eine Rolle. Damals war die Konfrontation mit der Polizei um Einiges massiver, vor allem in der unmittelbaren Nachwendezeit. Gewalt war ein großes Thema und solche Trends – Hooliganismus als Praxis – setzen sich natürlich kulturell fort. Spiele dieser Mannschaften gelten als „Gewaltereignisse“ und ziehen eine entsprechende Klientel an.Ich will aber nicht in dieses Horn stoßen. Ich denke, die Fanszene in Dresden ist eine riesige Gruppe. Wenn sie zu Auswärtsspielen fahren – meist gegen Gegner, bei denen sie noch nie waren –, sind viele Leute dabei und es passiert oft etwas. Das liegt vielleicht auch an manchen Mitreisenden, die in einer anderen Generation mit dem Verein sozialisiert wurden. Aber ich glaube nicht, dass die heutige Fanszene von Dynamo Dresden bei einem zufällig gewählten Spiel im Vergleich zu Fanszenen anderer Großstädte zwangsläufiger gewalttätiger ist; dass die Fanszene in Osnabrück z.B. nicht in der Größe vorhanden ist wie die in Dresden, ist sicher nachvollziehbar.

Das rasante Wachstum von RB Leipzig schlägt auch hohe Wellen in den Fanszenen. Müssen wir uns in Zukunft mit Strukturen, wie sie dort vorhanden sind, mehr befassen?

Ich bin überzeugt, der Fußball wird sich weiter wandeln und fortschreitend ökonomisieren. Ich sehe nicht, warum es anders sein sollte. Wenn wir fünf bis zehn Jahre in die Zukunft schauen, wird es in der Bundesliga ein paar Vereine geben, die als Markenkern den sportlichen Erfolg haben. Das sind dann die erfolgreichsten Fußballunternehmen. Aktuell würde ich sagen, dass es der FC Bayern und Borussia Dortmund sein werden. Auch Schalke ist da schon prädestiniert. Es gibt noch ein paar andere Vereine, die schon als internationale Marke funktionieren: Ich denke, es ist sehr entscheidend, ob sie international bekannt sind, ob die Kinder in Amerika und Asien mit den Trikots herumlaufen.

Und dann wird es ein paar Vereine geben, die davon leben, dass große Konzerne Geldgeber sind. Diese Vereine werden allerdings nur so lange existieren, wie die großen Konzerne erfolgreich sind. Wenn diese in eine Krise kommen, werden die Vereine auch ganz schnell weg sein. Es ist ja durchaus möglich, wenn wir mal 20 bis 25 Jahre in die Zukunft gehen, dass ein Konzern, der auf Verbrennungsmotoren setzt (wie VW), nicht mehr so erfolgreich sein wird. Dann kann es auch sein, dass Wolfsburg ganz schnell verschwindet; es sei denn, VW schafft den Dreh und kann sich auf dem Weltmarkt behaupten.

Ich will damit sagen: Es gibt viele Konzerne, die vor zehn Jahren auf dem Weltmarkt als Marktführer galten und heute nicht mehr existieren oder massiv an Bedeutung verloren haben. Hätte z.B. Nokia einen Fußballverein gehabt, wäre dieser heute wohl nicht mehr da. Dann würden andere Unternehmen in die Bresche springen und verschiedene Modelle anbieten.

Dann gibt es Modelle wie RB Leipzig: Da kam jemand und gründete einen eingetragenen Verein (e.V.) – ein Trick von Mateschitz, da er durch die Gründung eines e.V. die Mitgliederzahlen auf einem Minimum hält und stets 100-prozentigen Einfluss auf den Verein hat. Das ist ein neues Modell, das es so vorher noch nicht gegeben hat. Ich weiß aber nicht, ob das viele nachahmen werden, ob das so attraktiv ist. Man ist damit ja auch angreifbar und in Deutschland entsteht ein besserer Werbeeffekt, wenn ich als Großsponsor einsteige, als wenn ich den kompletten Verein samt Farben, Logo und Name übernehme.Ich glaube aber schon, dass wir uns damit anfreunden müssen, dass der Fußball sich einfach verändert. Es wird einige Marktführer geben, die sich über das Sportliche definieren, zudem Vereine mit großen Geldgebern und dann noch ein paar Vereine, die als „Fahrstuhlmannschaften“ fungieren.

Den Aufstieg in die erste Liga werden sie in den nächsten Jahren wohl schaffen. Was würde das für Fußballdeutschland bedeuten?

Ich kann mir vorstellen, dass die Akzeptanz mit der Zeit steigt und es zur Routine wird, dass ein Verein wie RB Leipzig in den Bundesligen spielt. Früher hat man sich auch über Wolfsburg beschwert, dann über Hoffenheim und heute über RB Leipzig. Sicher, die Fälle sind nicht identisch, aber es findet eine Gewöhnung statt. Ich glaube, solange der eigene Verein noch mitspielt, gehen die Leute zu den Spielen.

Es gibt aber auch Idealisten – gerade in der Ultra-Szene –, die das nicht mehr mitmachen wollen. So kann es auch vorkommen, dass einzelne Leute oder Gruppen sich aus den Stadien zurückziehen.

Aber ich glaube, wie schon gesagt, dass sich dann etwas Neues entwickeln wird. Junge Leute, für die die Konstellation um Leipzig normal ist, weil sie damit aufgewachsen sind, werden an deren Stelle treten.

Es ist z.B. spannend zu sehen, wie sich die jungen ultraorientierten Fans bei RB dafür rechtfertigen, Fans von RB Leipzig zu sein, und sie eine eigene Fankultur entwickeln möchten. Persönlich empfinde ich es auch als ein bisschen naiv zu denken, dass man dort richtig etwas bewegen könnte. Aber die Anziehungskraft des Fußballs und der Fankultur ist eben höher als der abstoßende Effekt.

Banner der Protestbewegung gegen RB Leipzig
Quelle: imago
Banner der Protestbewegung gegen RB Leipzig

Auf der anderen Seite: Ich habe ja schon angedeutet, dass es für mich denkbar wäre, dass sich eine Nische jenseits des Profifußballs entwickelt (gerade in den unteren Ligen) und dass Ultras dorthin ausweichen.

Es wäre auch spannend und durchaus möglich, dass eine Art „bunte Liga“ der Fußballvereine entsteht, die maßgeblich durch ihre Fanszenen getragen wird. In England gibt es schon drei bis vier Vereine, in Deutschland Chemie Leipzig und demnächst einen zweiten mit dem HFC Falke in Hamburg. Vielleicht kommen da noch ein paar mehr hinzu.

Die Frage ist, ob der Idealismus so weit geht, dass man auf den sportlichen Erfolg verzichtet und den Fokus auf das Ereignis Fußball mit Fankultur legt. Oder ist dann doch die große Bühne der ersten und zweiten Bundesliga wichtiger? Ich glaube es wird sich etwas Neues in den Nischen entwickeln, aber die Bundesligen werden nach wie vor das Phänomen bleiben, das die Massen anzieht.

Die Ausgliederungen der Profimannschaften eines Vereins stoßen bei den Fans oft auf Unverständnis. Wie ist deine Meinung dazu? Gibt es nur diese Möglichkeit, den Wettbewerb in der Bundesliga sportlich und finanziell zu meistern?

Darin bin ich nicht so fit. Es gibt ja auch verschiedene Möglichkeiten der Ausgliederung. Und die Struktur eines e.V. bedeutet, dass die Vorstände bei Misswirtschaft mit persönlichem Besitz haften. Ich glaube, die erste und zweite Bundesliga haben zusammen einen Jahresumsatz von 2 Mrd. Euro. Daran lässt sich schon erkennen, dass es um unfassbare Summen geht. Und da ist ein e.V. natürlich weniger mobil und auch ein gewisses Risiko. Die Ausgliederung wird dann auch zum Schutz des ganzen e.V. und der anderen Sportarten in dem Verein vollzogen.

Ich glaube schon, dass es für Ausgliederungen gute Gründe gibt, kann aber auch nachvollziehen, dass man dieser beschleunigten Kommerzialisierung kritisch gegenübersteht. Natürlich entfremdet so etwas die Fans immer weiter, da es in einem e.V. die Möglichkeit der Mitbestimmung gibt. Im europaweiten Vergleich ist das in Deutschland etwas Einmaliges. In Italien oder in England gab es so etwas noch nie. Dort waren die Fußballvereine schon immer Gesellschaften; es gab nie eine Vereinsstruktur mit demokratischen Mitwirkungsrechten.

Dabei ist auch zu unterstreichen: Die Demokratie in den e.V. hat einen weiteren Vorteil. Es ist ein Selbstverständnis des Fußballs, einerseits für die Anteilhaber, andererseits aber auch für die Vereinsmitglieder zu fungieren, die meist identisch mit den Fans sind. Das birgt ein enormes Identifikationspotenzial!

Dass Ausgliederung eine Entfremdung bedeutet, ist klar. Die Frage ist nur, ob wir die Entwicklung der Kommerzialisierung dadurch aufhalten, indem die Fußballabteilungen als e.V. bestehen bleiben. Da habe ich meine Zweifel. Das Problem ist, dass dieser Trend nicht aufzuhalten ist. Der Fußball wird sich noch mehr in diese Richtung entwickeln. Er ist heute schon eine der bedeutendsten und umsatzstärksten Unterhaltungsindustrien in Deutschland und das wird sich eher noch verstärken.

Du bist auch bei Ultra-Gruppen in Deutschland unterwegs, fungierst als Sprachrohr und Ansprechpartner. Was sehen Ultra-Gruppierungen in dir?

Damals haben sie mich nicht als Sprachrohr gesehen; ich weiß auch nicht, ob sie es jetzt tun. Da ist einfach jemand, ein Außenstehender, der einen anderen Blick hat. Auf Interesse ist gestoßen, dass ich einen Hintergrund und ein Wissen über die Ultra-Szene in Italien. Ich hatte damit etwas zu erzählen. Ich bin ein Außenstehender, mit dem sie kritisch über ihre eigene Subkultur diskutieren können und jemand, der auch Argumente oder Interpretationen geliefert hat, wie Ultras in dieser Gesellschaft wahrgenommen werden, wie man die Wahrnehmung auch verändern kann. Wie kommen die Ultras aus dieser „Schmuddelecke“ heraus? – Das war 2010-12 ein wichtiges Thema.

Heute ist der Kontakt weniger geworden. Ich habe einerseits viele andere Dinge zu tun, andererseits gibt es weniger Einladungen: Wenn man bei allen Ultra-Gruppen war, müsste man zunächst ein neues Buch schreiben, um einen Anlass zu haben, erneut auf Lesereise zu gehen.

Kontakt besteht heute auch noch, weil man sich natürlich kennt und wenn sich die Gelegenheit ergibt, tauscht man sich aus. Aber die Veranstaltungen sind weniger geworden. Was Ultra-Gruppen in mir sehen, weiß ich nicht. Das müsste man die mal fragen…

Was glaubst du, welche Themen die nächsten Jahre die Debatten in den Fankurven beherrschen werden und in welche Richtung sich die Fankultur in Deutschland entwickelt?

Eine pauschale Aussage finde ich da unmöglich. Ein Thema wird sicher bleiben, wie man mit Diskriminierung umgeht, das wird die Fanszenen beschäftigen. Ein weiteres Thema werden die Sicherheit und Sicherheitsdebatten sein, zumindest punktuell. Ich denke auch, dass ein aggressiveres Auftreten und die Veränderung der Symboliken der Ultras – z.B. dass die Sturmhaube gekommen und jetzt sozusagen ein fester Bestandteil geworden ist – ein bestimmtes Bild nach außen transportieren. Das zieht auch gewisse Leute an, junge Männer, die an einer solchen Außendarstellung interessiert sind. Ich vermute das verändert perspektivisch die Kultur.

Die größten Veränderungen in der Ultra-Szene passieren, denke ich, auch durch personelle Fluktuation. Neue Leute kommen dazu, ältere gehen wieder, weil die meisten ja nicht über mehrere Jahrzehnte Ultras sind, sondern vielleicht 10 bis 15 Jahre. Die große Masse ist wahrscheinlich wesentlich kürzer aktiv.

Die Themen Devianz und Delinquenz – also abweichendes und strafrechtlich relevantes Verhalten – wird es weiter geben und der Trend dahin gehen, dass der Fußball noch mehr Kontrolle haben möchte, dass es noch kontrollierter vonstattengeht. Das war auch ein Trend der letzten 20 Jahre und damit werden sich Fußballfans nach wie vor auseinandersetzen müssen.

BVB-Fanaktion gegen Nazis auf der Südtribüne
Quelle: imago
BVB-Fanaktion gegen Nazis auf der Südtribüne

Und dann werden solche Themen wie 50+1 bestimmend sein. Allerdings glaube ich, dass die Fans bedauerlicherweise dabei nicht viel mitreden können werden.

Ich finde es aber mindestens genauso interessant, was in den unteren Ligen passiert, in den Nischen des Profifußballs. Sucht sich die Ultra-Kultur auch Nischen und in inwiefern differenziert sie sich weiter aus? Wie entwickelt sie sich an den kleinen Standorten, an denen es noch mehr um das Erlebnis Fußball geht, weniger um den Vereinserfolg? Vielleicht werden auch noch die zweiten Mannschaften attraktiver für die Fanszenen.

Eine spannende Frage ist auch, wie die Entwicklung insgesamt weitergeht. Die meisten Jugend- und Subkulturen, wie Punk, Hip Hop, Skinheads oder Rocker, hatten ihre Hochzeit innerhalb von etwa zehn bis zwölf Jahren. Es gibt sie heute noch immer und viele fühlen sich diesen Subkulturen zugehörig. Aber die großen Zeiten, in denen sie populär waren, sind vorbei. In ihren Nischen entwickeln sie sich jedoch weiter.

Der typische Zyklus sieht wie folgt aus:Am Anfang gab es immer eine kleine Avantgarde. Dann wurde eine Sache bekannt und zum Massenphänomen, später kommerzialisiert. In dem Moment, als sie „mainstream“ wurde, haben die Idealisten sich abgewandt, wurde sie unattraktiv und sie haben sich wieder etwas Neues oder Nischen gesucht.

Die Frage ist, inwiefern dieser typische Zyklus auf die Ultra-Kultur zutrifft. Man kann dagegenhalten und sagen, dass in Italien die Ultra-Kultur mindestens über zweieinhalb Jahrzehnte erhalten blieb (Mitte der 80er bis Mitte der 2000er Jahre). Trotzdem ist die Frage natürlich spannend. Deshalb finde ich diese Nischen auch so interessant, wie sich die Ultra-Kultur hier weiterentwickelt und was die Ultras als Massenphänomen in den Stadien ablösen könnte, wenn es denn so kommt.

Vielen Dank für das interessante Gespräch.

Quelle: fanzeit, 28. Dezember 2014

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