»Die nächste Schlacht wird viel gewaltsamer«: Interview mit Philip Rizk und »Die Ordnung herrscht in Kairo«

Links zum Thema:
Zur Revolution in Ägypten – Interview mit einem ägyptischen Anarchosyndikalisten → Kosmoprolet
Arabischer Frühling im Herbst des Kapitals → Kosmoprolet
Postscriptum → Kosmoprolet

Von den Freundinnen und Freunden der klassenlosen Gesellschaft

http://polpix.sueddeutsche.com/polopoly_fs/1.1788439.1381127608!/httpImage/image.jpg_gen/derivatives/900x600/image.jpg

Die Ordnung herrscht in Kairo

Vor vier Jahren, als die Welt bereits unter einer unerwarteten Wirtschaftskrise ächzte, brachen im Norden des afrikanischen Kontinents Unruhen aus, die noch viel unerwarteter waren. Vorgeschichte und Verlauf dieser Unruhen werden in einem der zwei hier dokumentierten Gespräche mit ägyptischen Genossen geschildert. Es wurde 2011, ein paar Wochen nach der Absetzung des obersten Staatslenkers Hosni Mubarak, am Ort des Geschehens geführt, den eine revolutionstouristische Abordnung von uns aufgesucht hatte. Die Euphorie über die damals, so auch von uns im Titel der Erstveröffentlichung dieses Gesprächs, als »Revolution« bezeichneten Ereignisse war noch deutlich spürbar, aber es braute sich auch bereits erster Unmut über die von den Generälen besorgte Interimsregierung zusammen, die reihenweise unliebsame Zivilisten von Militärgerichten aburteilen ließ, während dem verhassten Ex-Staatschef kein Nachteil daraus entstand, dass seine Schergen während des Aufstands 800 Menschen getötet hatten. Dieser Unmut dürfte es vor allem gewesen sein, der 2012 der islamistischen Muslimbruderschaft bei den Präsidentschafts- wie Parlamentswahlen als vermeintlicher Alternative zum Ancien Régime einen klaren Sieg einbrachte. Als diese ebenfalls mit blutiger Repression nicht sparte, und die wirtschaftliche Misere des von Massenarmut gezeichneten Landes sich eher noch verschärfte, kam es im Sommer 2013 zu den größten Demonstrationen in der Geschichte Ägyptens, von denen flankiert erneut die Militärs die Macht an sich rissen.

Schien der nicht vorgesehene Eingriff der unteren Klassen in die Geschichte 2011 der Rede von einer Revolution eine gewisse Plausibilität zu geben, stellt sich die ganze Sache vier Jahre später als bittere Schmierenkomödie dar. Streng genommen hat das Militär zu keinem Zeitpunkt die Macht aufgegeben, sondern sie sich lediglich zeitweilig, vom Sommer 2012 bis zum Sommer 2013, mit den Islamisten geteilt. Vereint durch das oberste Interesse an Stabilität, verstanden sich bärtige Fundamentalisten und glattrasierte Generäle recht gut. Die Islamisten versuchten mit religiösem Klimbim das Volk bei der Stange zu halten und als Saubermänner das Ende der Ära von Korruption und Kleptokratie vorzugaukeln, die Militärs standen im Hintergrund Gewehr bei Fuß und bekamen von den neuen Staatslenkern zugesichert, ihre Macht, die sich nicht zuletzt auf ein riesiges Wirtschaftsimperium erstreckt, werde nicht angetastet. Dass ausgerechnet der vom Islamistenpräsidenten Mursi persönlich ernannte Obermilitär al-Sisi es dann war, der den ungeschriebenen Vertrag zerriss und Mursi abservierte, entbehrt nicht der Komik.

Wie im zweiten hier dokumentierten, 2014 geführten Gespräch angedeutet, gab es dafür zwei Gründe, die mit weltanschaulichen Unterschieden à la Säkularismus versus Islam oder Demokratie versus Autokratie nicht das Geringste zu tun haben. Zum einen waren die Muslimbrüder schlicht hoffnungslos damit überfordert, im Armenhaus Ägypten für Ruhe und Ordnung zu sorgen: die bereits vor dem Sturz Mubaraks eindrucksvollen und danach noch zunehmenden Streiks rissen nicht ab. Zum anderen waren es die Muslimbrüder selbst, die von Machtgier getrieben das Arrangement mit den Militärs aushöhlten. Weit mehr als ein beliebiges Beispiel stellt dabei ihre Ankündigung dar, im Verein mit Investoren aus Katar und unter Umgehung der Generäle den Suezkanal zu entwickeln: »Dies hätte den Zugriff des Militärs auf das Kronjuwel seines wirtschaftlichen Expansionsprojekts gebrochen und eine beträchtliche Verschiebung der ökonomischen Macht zugunsten der Muslimbruderschaft bewirkt, was es dieser vielleicht sogar erlaubt hätte, sich von der Einschränkung durch politische Deals mit dem Militär zu befreien. (…) Diese Episode hat zweifellos erheblich zum Eifer des obersten Militärrats bei der Absetzung Mursis sowie zu seiner Entscheidung beigetragen, die Muslimbrüderschaft sodann als lästigen Rivalen vollständig zu zerschlagen.«1

Welche Rolle der Machtkampf um die und zwischen den Institutionen spielte, ist eine Frage, die sicherlich weiterer Klärung bedarf. Die religiöse Azhar-Körperschaft etwa wurde in der von Muslimbrüdern und Salafisten Ende 2012 durchgepeitschten Verfassung von einer Institution des Staatsislam zum Wächter über den Gesetzgebungsprozess erhoben. Auch die Frage, wie und inwieweit die Islamisten zur desaströsen Lage der Frauen in Ägypten beigetragen haben, ist offen, ebenso, warum der Kampf dagegen auf so wenig Widerhall bei den Massendemonstrationen stieß. Sicherlich stimmt es, dass, wie im zweiten Gespräch ausgeführt wird, diese Lage ganz unabhängig vom jeweiligen Regime eine elende ist. Allerdings hob sich beispielsweise die empörte Weigerung der MB-Regierung im März 2013, eine UN-Deklaration gegen die Gewalt gegen Frauen zu unterzeichnen, weil dies den »letzten Schritt bei der geistigen und kulturellen Invasion islamischer Länder« bedeuten und »die moralische Besonderheit, die zum Zusammenhalt islamischer Gesellschaften beiträgt«, auslöschen würde, von dieser tristen Normalität nochmals ab. Nicht einschätzen können wir, welche Bedeutung solche Manöver für das Alltagsleben hatten.

Seit dem Coup vom Sommer 2013 regieren nun allerdings die Militärs das Land mit einem Ausmaß an Repression, wie es in Ägypten seit langem nicht mehr – auch nicht unter den Islamisten – gegeben war. Tatsächliche oder vermeintliche Anhänger der Muslimbruderschaft wurden zu Tausenden regelrecht massakriert und in die Gefängnisse verfrachtet, aber auch weniger unsympathische Kräfte hat die volle Härte des Repressionsapparates getroffen. Aktivisten wurden für die bloße Teilnahme an einer Demonstration zu fünfzehn Jahren Knast verurteilt, jede Opposition soll mundtot gemacht werden. Und während es die islamistische Konkurrenz abräumt, versucht das Militär zwecks Bedienen der dumpfesten Ressentiments im Volk zugleich »islamischer als die Islamisten« zu erscheinen, wie eine ägyptische Menschenrechtlerin anlässlich eines Polizeieinsatzes im vergangenen Dezember bemerkte, bei dem zwei Dutzend nackte Männer, der Homosexualität verdächtig, medial begleitet aus einem Hamam abgeführt wurden.2

Dass al-Sisi das Land nun direkt als Präsident regiert, war vermutlich nicht die erste Wahl des Militärs, das gerne ungestört im Hintergrund seinen Geschäften nachgegangen wäre. Seine Repressionsexzesse drücken auch begründete Angst vor Aufruhr aus. Nach einem kurzen Rückgang infolge des Putsches haben die Streiks 2014 wieder an Schwung gewonnen und bereits im Februar des Jahres einen Rücktritt des zivilen Attrappen-Kabinetts bewirkt. Offenbar versucht das neue Regime, neben blanker Gewalt auch mit einem gewissen Anknüpfen an die arbeiterfreundliche Rhetorik der etatistischen Nasser-Ära für Befriedung zu sorgen. Welche Spielräume es dabei nach dem Ende des wirtschaftlichen Etatismus hat, scheint allerdings fraglich; um Subventionskürzungen im Geist der Austerität ist es jedenfalls nicht herumgekommen und hat den Unmut der pauperisierten Bevölkerungsmasse damit erheblich angefacht.

Doch wenn die anhaltenden Arbeiterstreiks auch der Alptraum der jeweils Herrschenden gewesen sind und dies bis auf weiteres bleiben dürften, eignen sie sich kaum als Nahrung für Revolutionshoffnungen. Wie in beiden Gesprächen deutlich wird, haben sich die Streiks während des gesamten Zeitraums weitgehend getrennt vom Geschehen auf der Straße abgespielt. Sie scheinen, so wichtig sie 2011 auch waren, kaum einen Bezugspunkt für die immer wieder aufflackernden Demonstrationen und Straßenkämpfe zu bieten, so wie umgekehrt die Bewegungen auf der Straße für die Streiks unerheblich geblieben sind, aber nicht etwa, weil man in schöner Einfachheit eine von der Mittelschicht getragene Demokratiebewegung einerseits, eine proletarische Streikbewegung andererseits vor sich hätte. Was immer der Gummibegriff Mittelschicht in Ägypten bezeichnen mag, die Masse derer, die 2011 und später auf die Straße gegangen sind, verfügt ebenfalls über kaum mehr als die eigene Arbeitskraft, verkauft sie allerdings nicht in Arbeitsverhältnissen, die Streiks und Gewerkschaftsgründungen überhaupt zulassen würde. Dieses »informelle Proletariat« (Mike Davis) kämpft vor allem gegen eine repressive Ordnung, die es seine Marginalität durch Polizeiwillkür spüren lässt, und findet sich periodisch zum Aufruhr zusammen, ohne feste Organisationsformen oder eine politische Programmatik herauszubilden.

Von Anfang an hatten die Unruhen in Ägypten postpolitische Züge und stellten sich als große Wirren dar. Es ging und geht weiterhin um Brot und Freiheit, aber keiner Kraft ist es gelungen, diesen Impuls in ein realistisches Programm zu überführen. Was sich vor diesem Hintergrund seit 2011 beobachten ließ, waren wiederholte Eingriffe der breiten Bevölkerungsmasse in das Geschehen, die einerseits ausschlaggebend waren, andererseits nie über die ebenso deutliche wie letztlich unbestimmte Bekundung hinausgegangen sind, dass es so, wie es ist, nicht bleiben darf, was schlussendlich jedes Mal zum Ergebnis hatte, dass wahlweise Militärs oder Islamisten ans Ruder kamen. Linksradikale mag dies insofern nicht kratzen, als sie weder in linke Reform- noch in vermeintlich revolutionäre Avantgardeparteien irgendeine Hoffnung setzen. Wie der Kairoer Genosse im zweiten Gespräch meint: »Ich bin nie für eine andere Regierung auf die Straße gegangen.«

So liegt Ägypten ganz im allgemeinen Trend zu Unruhen, die keinen positiven Entwurf mehr aufbieten und deshalb zunächst verpuffen. Viele Linke finden diesen zeitgenössischen Wirrwarr »spannend« o.ä., was er auch sein mag. Doch wem die Aussicht nicht schmeckt, sich immer nur an der Unvorhersehbarkeit der Revolte zu erfreuen, der könnte anlässlich des Jahrestags der ägyptischen Revolutionsfarce auch über das gegenwärtige Problem nachdenken, dass die Flaute des Reformismus und das Ende des Staatssozialismus keineswegs einem wirklichen Bruch mit den gesellschaftlichen Verhältnissen den Weg gebahnt haben. In den endlosen Tumulten der letzten Jahre hat der Gedanke eines solchen Bruchs keine klareren Konturen gewonnen. Der Macht, Herrscher zu stürzen, entsprach durchweg eine vollständige Ohnmacht, eine neue gesellschaftliche Ordnung ins Auge zu fassen. Dabei darf es nicht bleiben, und zum Glück muss man kein Leninist sein, um von Spontaneität allein keine Wunder zu erwarten.

Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft, Januar 2015

1. L.S., Continuing Business by Other Means: Egypt’s Military Economy (Mai 2014). Eine im Übrigen wärmstens empfohlene Darstellung der wirtschaftlichen Rolle des ägyptischen Militärs und ihrer Auswirkungen auf das dortige Geschehen.
2. »Der größte Sündenpfuhl für Gruppenperversion«, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.12.2014.

 

»Die nächste Schlacht wird viel gewaltsamer«: Interview mit Philip Rizk

Im Juli 2013 hat das Militär Präsident Mohamed Mursi abgesetzt, nachdem Millionen gegen die Herrschaft von seinen Muslimbrüdern (MB) auf die Straße gegangen sind. Was war die Triebkraft dieser massenhaften Unzufriedenheit?
Gerade mit Blick auf die jetzige Situation muss man sich ins Gedächtnis rufen, dass es nach Mursis Sieg bei den Präsidentschaftswahlen 2012 ein riesiges Fest in den Straßen gab. Viele Leute haben darin einen Moment des Siegs, einen revolutionären Moment gesehen. Bei den Wahlen sind zum einen klare Vertreter des alten Regimes angetreten, zum anderen Mursi.
Deshalb galt er als jemand, der sich von der bisherigen militärischen Konstellation unterscheidet. Am Wahltag war ich in einem ärmeren Viertel in Kairo. Die Kinder und die Leute haben gefeiert, sind auf Lastern die Straßen hoch- und runtergefahren, es gab Feuerwerk…

Die Demonstration, an der ich damals teilgenommen habe, war sehr klein. Wie so oft in den letzten drei oder vier Jahren hat es eine ganze Weile gedauert, bis die Opposition Fahrt aufnahm. Viele, die vorher demonstriert hatten, waren natürlich sowieso für die MB, aber viele andere hatten einfach die Haltung, dass man ihnen eine Chance geben und erstmal abwarten sollte. Doch die Politik, auch die Wirtschaftspolitik, blieb über weite Strecken zwar nicht exakt dieselbe, folgte aber derselben Herrschaftslogik, zum Beispiel was die Macht der Polizei und die Eindämmung von Protesten angeht. Unter Mursis Herrschaft wurde erneut versucht, ein Gesetz gegen Proteste durchzubringen. Und im November 2012 wollte sein Kabinett eine Steuererhöhung beschließen, die breite Teile der Bevölkerung betroffen hätte. Als die anfangs kleinen Proteste brutal unterdrückt wurden, dämmerte den Leuten, dass etwas Ähnliches wie in den ersten Tagen der Revolution passiert. Wir haben Demonstrationen zum Gedenken an wichtige Straßenschlachten in vorherigen Phasen der Revolution gemacht, zum Beispiel die in der Mohamed-Mahmud-Straße. Dann kam es zu Zusammenstößen und es entwickelte sich eine ähnliche Logik wie früher, mit endlosen Straßenschlachten über mehrere Tage und vor allem Nächte. Die Leute fingen also wieder an, mehr auf die Straße zu gehen.

Eine sehr wichtige Sache in dieser Phase, die schließlich zu den Massendemonstrationen vom 30. Juni 2013 und den Tagen danach führt, war, dass die Medien eine völlig andere Rolle gespielt haben als 2011 und dann wieder nach dem Militärputsch vom 3. Juli 2013. Bis zum 30. Juni wurde über solche Ereignisse sehr klar berichtet und die Polizeigewalt auf der Straße gezeigt. Die ägyptischen Medien unterliegen einer starken Kontrolle. Die Zensur fängt beim Innenministerium an, das den Chefredakteuren von Zeitungen und Fernsehsendern telefonisch mitteilt, worüber sie berichten sollen und worüber nicht – die Militärgewalt zum Beispiel wurde nie wirklich gezeigt –, zieht sich durch die Rangordnung innerhalb der Medien und endet schließlich bei der Selbstzensur von Journalisten. Aber während der Regierungszeit der MB gab es deutlich weniger Zensur. Nur eine kleine Anekdote dazu: Unsere Gruppe Mosireen, die vorher Sachen gefilmt hatte, die für uns die Perspektive der Straße waren, hatte kaum noch eine Funktion, weil Fernsehen und Zeitungen jetzt weitgehend über die Repression berichteten. Gerade im Medienapparat arbeiten viele Leute aus der liberalen Mittelschicht, die dazu tendieren, eine Partei mit islamistischem Hintergrund zu kritisieren. Man könnte fast sagen, dass die Medien tatsächlich die Rolle gespielt haben, die sie spielen sollten, aber eben nur während der zwölf Monate der MB-Regierung.

Um die Frage nochmal konkreter zu formulieren: Waren die Massenproteste eine Reaktion auf die anhaltende Repression und soziale Misere oder hat der spezifische Charakter der MB als einer islamischen Partei, die allmählich die Gesellschaft »islamisiert«, eine Rolle gespielt?
Anfangs wurde die Opposition stärker, weil die Repression weiterging und vor allem, weil jetzt mehr über sie berichtet wurde als früher. Was die Religion angeht: Ihre Rolle im öffentlichen Leben ist ziemlich schwer zu erklären. Die ägyptische Gesellschaft ist wahrscheinlich religiöser als Tunesien und Libyen oder sogar Palästina, Syrien und Irak. Es war immer eine Stärke der Militärregime einschließlich des jetzigen – mit Unterbrechung durch die MB, die etwas anderes sind –, dass sie sich sehr erfolgreich als durchaus religiös darstellen, ohne ein religiöses Programm zu verfolgen. Zum Beispiel hat noch nie eine ägyptische Regierung versucht, die Verfassung zu ändern, die sich ausdrücklich auf die heiligen Schriften des Islam beruft. Auch die theologische Al-Azhar-Universität hat immer eine sehr bedeutende Rolle als religiöses Sprachrohr der Regierung gespielt, in sämtlichen Phasen. Die wissen also, wie man diese Religiosität der Bevölkerung bedient, ohne ein wirklich religiös geprägtes politisches Programm zu haben.

Den Medien ist es gelungen, das aufzugreifen, indem gesagt wurde: Die Ägypter wollen auf keinen Fall eine »säkulare« Gesellschaft bzw. Staat, aber religiöse Extremisten wollen sie auch nicht. Und im Diskurs im Vorfeld des Sommer 2013 wurde immer stärker der Extremismus der MB betont.

In religiöser Hinsicht?
Ja. Und diese Verschiebung war massiv. Als es zum Beispiel Anfang 2013 Proteste vor der Parteizentrale der MB gab, machten Gerüchte die Runde, dass palästinensische und syrische Militante sie beschützen würden, und besonders die Medien haben diese Gerüchte aufgegriffen. Es ist schwer zu sagen, wie das angefangen hat, denn soweit ich weiß gibt es dafür keinerlei Beweise. Warum sollten die MB ihre Parteizentrale durch ausländische Bewaffnete schützen lassen? Das ergibt für mich überhaupt keinen Sinn. Aber als sich diese Geschichten verbreiteten, fing ein großer Teil der Bevölkerung, der zwar religiös ist, aber der Tendenz nach kritisch gegenüber einem religiösem Extremismus wie dem, über den man aus Syrien und Palästina hört, sehr schnell an, die MB als zunehmend militante Gruppierung zu sehen. Auch die bewaffneten Gruppen, die im Sinai gegen das Militär kämpfen, wurden schnell mit den MB ineins gesetzt, obwohl es für diese Verbindung ebenfalls keine Beweise gibt. Die Situation im Sinai ist sehr schwer einzuschätzen und viele Medienberichte bezweifele ich stark, besonders wenn sie auf Angaben des Innenministeriums oder des Militärs beruhen. Solche Situationen werden dazu genutzt, Gerüchte und Angst zu verbreiten. Das alles spielt sich also im Hintergrund ab und führt dann zum Sommer 2013.

Aber inwieweit waren die Proteste dadurch motiviert? Und zweitens, hatten die MB deiner Meinung nach ein radikales islamistisches Programm, das sie nur nicht verwirklichen konnten, oder waren sie ohnehin eher moderater?
Keine Partei, die in Ägypten an die Macht kommt, wird die Bürgerrechte respektieren. Und die MB haben sich meines Erachtens, im Großen und Ganzen, nicht besonders von ihren Vorgängern unterschieden. Sie hatten keine Ausweitung von Rechten vor, sondern wollten viele Rechte abschaffen. Die Christen zum Beispiel hatten schon unter Sadat und Mubarak viele Rechte nicht, die Moslems hatten. Nur weil solche Figuren nicht religiös motiviert waren, heißt das nicht, dass die Religionen gleichgestellt waren. Die MB hätten das meines Erachtens so weitergeführt. Aber sie hatten auch ein Interesse an guten Beziehungen zu ihren westlichen Handelspartnern. Es wäre nicht besser geworden, es hätte sicherlich einige sehr bedenkliche Situationen gegeben, in denen eine Regierung mit religiösem Programm über die Unterdrückung von Christen, die besonders in Oberägypten zunimmt, definitiv hinweggesehen hätte. Aber persönlich denke ich nicht, dass die MB das Programm hatten, als religiöse Extremisten aufzutreten. Bislang gibt es für sämtliche Beispiele, mit denen Medien, Militär und Sisi die MB als eine Art terroristische Gruppierung darstellen wollten, absolut keinen Beweis. Das heißt nicht, dass solche Dinge nie passieren könnten. Aber ich denke nicht, dass sie passiert sind. Das wäre überhaupt nicht im Interesse der MB. Diese Darstellung hat aber funktioniert und den perfekt geeigneten Feind geboten, um den Patriotismus anzufachen und etliche Bürgerrechte einzuschränken.

Du würdest also sagen, dass diese Massendemonstrationen nicht von der Angst vor einer reaktionären islamistischen Politik angetrieben wurden?
Nehmen wir zum Beispiel die Situation von Frauen. Die Bilanz der MB, wie sie Frauenrechte verstehen und behandeln, ist grauenvoll. Aber das gilt auch für alle Regierungen davor. Sisi hat ein paar populistische Manöver gemacht, so als ginge es ihm um das Interesse von Frauen, aber in Wirklichkeit besteht sehr geringes Interesse an solchen Veränderungen. Es ist leicht, das an den MB festzumachen, aber Fakt ist, dass Ägypten eine von extremer Ungleichheit geprägte Gesellschaft ist, in der Männer deutlich mehr Freiheiten haben als Frauen und sexuelle Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz, zuhause und auf der Straße auf breite gesellschaftliche Akzeptanz stoßen. Das ist kein Thema, das nur die MB betrifft.

Wie deutest du die Tamarod-Kampagne, die bei den Protesten gegen das MB-Regime eine große Rolle gespielt hat?
Die wurde von drei oder vier Leuten geleitet. Meines Erachtens fing das als relativ unschuldige Bewegung der Art von Jugendlichen an, die seit 2011 an der Revolution aktiv beteiligt waren. Tamarod sammelte Unterschriften für Neuwahlen und demonstrierte eine starke Ablehnung der MB. Eine solche Bewegung hätte ohne weiteres ein sehr kurzlebiges politisches Unternehmen sein können. Aber sie war im Interesse des Sicherheitsregimes, des Militärs und des Innenministeriums, und wurde von diesen Apparaten kooptiert. Es gab gewaltsame Auseinandersetzungen, Parteibüros der MB wurden angegriffen und verwüstet, und jedes Mal unterstützte das Innenministerium die Demonstranten.

Der Sicherheitsapparat wurde also weiter vom Militär und nicht von den MB kontrolliert?
Es besteht traditionell eine Konkurrenz zwischen den verschiedenen Apparaten, von denen es ziemlich viele gibt. Militär und Innenminister sind sich nicht immer einig. Aber in einer solchen Situation lautet ihr übergeordnetes Interesse Stabilität. Ich interpretiere die Situation so, dass die MB versucht haben, in diesen verschiedenen Institutionen mehr Macht zu bekommen. Das steht außer Zweifel. Und das war die absolute Grenze für die Sicherheitsapparate. Es war zwar nötig gewesen, die MB ins Rampenlicht zu rücken, sie sollten für eine Phase die Verantwortung übernehmen, aber es hatte gleichzeitig eine klare Übereinkunft über die Machtverteilung zwischen ihnen, dem Innenministerium und dem Militär gegeben.

Manche Leute meinen, dass es bereits beim Machtantritt der MB den Plan gab, sie später zum Sündenbock zu machen. Ich denke das nicht. Die MB waren die Gruppierung, die auf der Straße mit Abstand am meisten Anhänger hatte. 2012, als die Wahlen stattfanden, galten die Militärs nicht als die bessere Lösung. Da kam gerade die Phase der Militärjunta, des SCAF (Supreme Council of the Armed Forces), an ihr Ende und ihre Gewalt gegen die Bevölkerung wurde teilweise bekannt, was zu wachsender scharfer Kritik führte. Der Gedanke eines neuen Militärregimes wurde von vielen Leuten abgelehnt und ich denke, auch den Militärs schien das damals strategisch nicht sinnvoll. Die Befürwortung einer zivilen Regierung wurde also geteilt, und für diese Rolle waren am besten die MB geeignet.

An dieser Stelle kann man ausländische Interessen nicht außeracht lassen. Die USA, die Russen, die Europäer, alle haben einen gewissen Einfluss. Eine Delegation des US-Kongresses zeigte sich ausgesprochen zufrieden mit den MB, weil man sich in allen wichtigen Punkten einig war. Die MB wollten keines der bestehenden Abkommen ändern, also sollte laut ihren Versprechungen auch das Camp-David-Abkommen mit Israel weiter bestehen. Außerdem versprachen die MB, die neoliberale Umstrukturierung der Wirtschaft fortzusetzen. Es gibt viele militärische Verbindungen zwischen Ägypten und den USA, und damals war klar, dass eine Machtübernahme der MB ein akzeptables Szenario ist.

Aber dann ist zweierlei passiert. Zum einen waren die MB nicht in der Lage, sich weiterhin ausreichend Zustimmung zu sichern. Die Situation auf den Straßen blieb instabil, die Proteste, vor allem spontane und zunehmend gewaltsame, hielten an. Diese wachsende Instabilität lag im Interesse von niemandem. Nicht im Interesse irgendeiner der ausländischen Mächte, denn wer Geld und Macht hat, ist an einem stabilen Ägypten interessiert. Wer an der Macht ist, ob eine Militärdiktatur herrscht oder eine religiöse Partei regiert, spielt nicht wirklich eine Rolle, solange Stabilität gewährleistet ist. Und die MB erwiesen sich zunehmend als außerstande dazu. Zweitens, wie schon erwähnt, blieb der von den MB übernommene Staatsapparat zu beträchtlichen Teilen in gewissem Maß loyal gegenüber dem alten Regime. Es gab eine ständige Rivalität und einen beharrlichen, tagtäglichen Widerstand innerhalb des Apparats gegen die MB. Teilweise richtete er sich aber auch gegen Versuche der MB, ihre eigenen Leute an die Schalthebel zu bringen.

Du meintest, das Militär habe der Bewegung gegen die MB nicht ablehnend gegenübergestanden. Aber wie wurde das Militär seinerseits von den verschiedenen Gruppen auf der Straße, zum Beispiel den Ultras und den Arbeitern, gesehen?
Der Feind Nummer eines waren die MB, so wie es Anfang 2011 das Mubarak-Regime war. Das hat die Tagesordnung bestimmt. Die meisten Leute haben das Militär nicht an der Macht gesehen – an der Macht waren die MB. Die Repression hielt an, die Gefängnisse waren voll, die Folter ging weiter. Also haben die Leute der Tamarod-Kampagne ihre Unterschrift gegeben, denn diese Bewegung hatte Dynamik.

Kritik am Militär war unerwünscht. Ich habe zum Beispiel am 30. Juni an einer kleinen Demonstration teilgenommen, auf der sowohl gegen die MB als auch gegen das Militär Parolen gerufen wurden. Es gab zwei solcher Demonstrationen, aber beide waren extrem klein verglichen mit den Massen, die auf die Straße gingen. Im Fernsehen erteilten Tamarod-Aktivisten Anweisungen, was man zu sagen hatte und was nicht. Die Botschaft war vollkommen klar: Parolen gegen die Polizei und das Militär sollte es nicht geben – im Augenblick haben wir genau einen Gegner, die MB, also sollten wir keinen Streit in den eigenen Reihen anfangen, der uns spaltet. Wer wie ich und eine relativ kleine Gruppe von Demonstranten sowohl gegen die MB als auch das Militär war, ging als extrem schwache Stimme in einem Meer von Protest unter, der sich ausschließlich gegen die MB richtete.

Wie war die Situation, als die Massaker des Militärs anfingen?
Die Situation war wirklich furchtbar. Das Militär hat letztlich eine Teile-und-Herrsche-Strategie verfolgt. Und es ist ihm auch gelungen, die Opposition zu spalten, durch ein Szenario, in dem man entweder für die MB ist oder nicht – etwas anderes gab es nicht. Proteste, die nicht für die MB waren, sondern schlicht das Militär kritisiert haben, wurden von den Medien, aber auch vom Militär schnell als Unterstützung der MB dargestellt und dadurch schlagartig delegitimiert. Traurigerweise haben viele Intellektuelle, viele vorher sehr aktive und bekannte Figuren in der Revolution, die Position eingenommen, das Militär erstmal nicht zu kritisieren, sondern ihm eine Chance zu geben und zu schauen, was für einen Übergangsprozess es anzubieten hat, denn das Wichtigste sei es im Moment, dafür zu sorgen, dass die MB keine Gelegenheit mehr zur Machtübernahme bekommen.

Wie erklärst du dir, dass zum Beispiel Teile der Ultras White Knights, die gegen das MB-Regime gekämpft hatten und relativ immun gegen religiösen Fanatismus waren, nach Beginn der Massaker anfingen, Seite an Seite mit Pro-Mursi-Aktivisten zu kämpfen?
Ich denke, da muss man gar nicht unbedingt zwischen Ultras und anderen differenzieren, denn das gilt für alle Beteiligten an den Protesten. Viele von denen, die wirklich geglaubt hatten, dass die MB eine radikale Veränderung anzubieten hätten, haben über die Gewalt des MB-Regimes hinweggesehen. An dieser Position haben sie dann festgehalten und sind für die MB auf die Straße gegangen.

Die Ultras waren eine hochgradig organisierte Gruppe von Fußballfans und haben in verschiedenen Phasen der Revolution eine ganz eigene Rolle gespielt. Und es gab bedeutsame Spaltungslinien in ihren Reihen, etwa zwischen denen, die auch gegen die MB weiter protestiert haben, und MB-Unterstützern. Auch gegen die Ultras wurde eine sehr starke Teile-und-Herrsche-Strategie eingesetzt, weil sie als Gefahr für das System gesehen wurden und disqualifiziert werden mussten. Und sie haben sich dann auch gespalten – für oder gegen die MB.

Gilt das auch für die Arbeiter?
Zunächst mal gibt es keine Arbeiterbewegung. Was es gegeben hat, war eine Welle von Streiks. Das beschreibe ich in meinem Text »2011 war nicht 1968«.1 Tunesien zum Beispiel hat eine vollkommen andere Geschichte, was Arbeiterorganisationen angeht. In Ägypten wurden sie harsch unterdrückt. Die Streiks gingen weiter, aber immer in einer anderen Sphäre als die Straßenproteste. Diese beiden Prozesse laufen leider ziemlich getrennt ab.

Und jetzt? Es wurden unabhängige Gewerkschaften gegründet. Warum mündet das nicht in einer politischen Dynamik?
Das liegt in erster Linie daran, dass sich die Arbeiter um Lohnforderungen und dergleichen organisieren. Es gab immer Versuche verschiedener sozialistischer Gruppen, die Arbeiter auch politisch zu organisieren. Sie sind allesamt gescheitert. 2011 wurde die »Arbeiter- und Bauernpartei« gegründet; ich weiß nicht, ob es sie überhaupt noch gibt. Vielleicht schon, aber sie hat keine praktische Bedeutung. Politische Gruppen oder politisierte Individuen gerieten unter Arbeitern schnell in Verruf, weil man ihnen unterstellte, sie hätten andere Interessen als die unmittelbaren Forderungen der Arbeiter.
Meiner Meinung nach gab es keine dynamische Arbeiterbewegung. Es gab eine sehr beträchtliche Welle von Arbeiteraktionen, aber es war sehr schwierig, Arbeiter auch nur zur Solidarität mit einem Streik oder einer Aktion in ihrer Nähe zu mobilisieren. Weil die Arbeitsplätze so bedroht sind, will man seinen Job nicht verlieren. In manchen Phasen waren Leute bereit, ihre Jobs zu riskieren, um ihre Lage zu verbessern, aber sie wollten sie nur sehr selten für politische Ziele riskieren.

Zugleich gab es unter Arbeitern niemals einen Konsens, dass die MB oder das Militär unser Bestes im Sinn hätten. Die Nasser-Ära, in der es noch wenigstens eine arbeiterfreundliche Rhetorik gab – wenn auch eine trügerische –, ist lange her. Sisi stellt sich gerne ähnlich dar und hat damit einen gewissen Erfolg, aber das wird nicht lange anhalten, weil in der Praxis nichts geschieht. Wenn überhaupt, ist die Repression nur schlimmer geworden.

Als die MB die Wahlen gewonnen hatten, ließen die Streiks eine Weile lang etwas nach, weil viele dachten, es würde sich etwas ändern. Ich erinnere mich noch an Gespräche, in denen Leute meinten: »Die Ära der Korruption, der Privatisierung ist vorbei«. Es gab Versprechen, es werde keine weiteren Privatisierungen mehr geben…

Die MB haben das tatsächlich versprochen?
Ja. Und tatsächlich konnten sie den Privatisierungsprozess während ihres einen Jahres an der Macht auch nicht viel weiter führen.

Ich erinnere mich noch an eine der wichtigsten Figuren unter den Arbeitern im öffentlichen Transportsektor, ein Salafist, den alle »Scheich« nannten. Gegen Ende der Regierungszeit der MB war er klar gegen die Regierung, weil er nicht wollte, dass sich die Arbeiter so leicht über den Tisch ziehen lassen. Wenn ihre Forderungen nicht erfüllt werden, wenn sie Versprechen erhalten, die nicht eingelöst werden, kämpfen sie, auch wenn sie sehr religiös sind. Letztlich haben sie ihre Forderungen und auf denen bestehen sie. Ich habe mehrere besetzte Fabriken besucht und zwei oder drei der Anführer waren sehr religiös.

Du meinst Gewerkschaftsführer?
In einer dieser Fabriken war es gar keine Gewerkschaft, die haben einfach den Streik angeführt. Das waren sehr religiöse Typen. Der eine war höchstens Anfang dreißig. Er hatte einen langen Bart, man nannte ihn ebenfalls Scheich, was heißt, dass er ein gewisses religiöses Ansehen unter den Arbeitern hatte. Der Umgang des Militärs mit diesen Arbeiteraktionen war – verglichen mit dem letzten Jahr, in dem sich alles um 180 Grad gewendet hat – noch recht sanft. Während der Regierungszeit der MB wurden Unruhen zugelassen, da sie dem Interesse des Militärs entgegenkamen.

In der Vergangenheit haben wir weitgehend die These akzeptiert, dass Arbeiterbastionen wie etwa die Textilindustrie in Mahalla für die Versprechen der Islamisten weniger empfänglich waren.
Darin sehe ich keinen Widerspruch. Ich habe einige Zeit in Mahalla verbracht und mir ist keine starke Religiosität unter den wichtigsten Figuren 2006/07 aufgefallen. Das heißt aber nicht, dass es in anderen Gruppierungen von Arbeitern keine starke religiöse Tendenz gibt.

Reden wir über die derzeitige Lage. Die Repression ist schlimmer als unter Mubarak. Ist die Bewegung tot?
Wie erwähnt, haben die wichtigen Akteure inner- und außerhalb Ägyptens vor allem ein Interesse an einem starken, stabilen Staat. Und auf eine solche Stabilität zielen alle ihre Schachzüge ab. Es wurde ein sehr deutliches Bild eines Staatsfeindes entworfen und diese Narrative wurden von einem recht breiten Teil der Bevölkerung akzeptiert, besonders von der Mittel- und Oberschicht, die wie anderswo auch den öffentlichen Diskurs stärker prägt. Die zunehmende Repression und die Beschneidung von Rechten werden mit der Stabilisierung und Stärkung des inneren Kerns des Staates sowie der Ökonomie gerechtfertigt. Das ist die Grundlage des Antidemonstrationsgesetzes und hat dem Innenministerium einen Blankoscheck gegeben. Und das tötet bis auf weiteres jede Dynamik für eine Bewegung auf der Straße ab.

Aber wie breit ist die Unterstützung für das derzeitige Regime wirklich? Das Bild scheint widersprüchlich – wenig Proteste, aber auch wenig Begeisterung, wie die geringe Wahlbeteiligung zeigt. Sind die Leute einfach nur erschöpft?
Die Situation scheint mir auch sehr widersprüchlich. Die Medien betreiben weiterhin eine Propagandakampagne für das Militär. Man hört nie jemanden, der die derzeitige Lage kritisiert. Tag ein, Tag aus behaupten die Medien, dass sich die Lage gebessert hat, bessern wird, dass Stabilität einkehrt und dass das Militär tut, was es kann, um den Widerstand gegen einen starken Staat zu brechen. Es gibt also dieses extrem patriotische Narrativ.

Aber gerade unter denen, die keine Stimme haben, die von den Medien bewusst ignoriert werden und nie zu Wort kommen, findet man viele Leute, die der derzeitigen Lage gegenüber zunehmend skeptisch sind. Vor allem Leute aus Armen- und unteren Mittelschichtsvierteln glauben nicht an den politischen Prozess. Teilweise, weil sie noch nie an ihn geglaubt haben – sie glauben einfach nicht, dass ihre Wahlstimme etwas ändern kann. Es gibt aber auch jene, die nach dreieinhalb Jahren extremer Unruhen und Unwägbarkeiten nicht sehen, dass etwas anderes möglich ist, weil keine Alternativen geboten werden. Innerhalb der staatlichen Narrative gibt es auch tatsächlich keine Alternativen. Ägyptens außenpolitische Partner werden weiterhin die Mächtigen unterstützen ohne jegliche Rücksicht auf die Bedürfnisse der einfachen Leute auf der Straße.

Sisi hat es sich lange überlegt, ob er bei den Wahlen antreten soll oder nicht. Wenn er nämlich erst das höchste Amt innehat, kann er die Verantwortung für negative Entwicklungen nicht ewig auf andere schieben. Sisi ist das sehr klar und ich glaube, davor hat er eine ungeheure Angst. Ja, er war eine Zeit lang extrem beliebt, aber das lässt bereits nach. Und jetzt ist er gezwungen, Subventionen zu streichen, und er weiß, dass das zu Preiserhöhungen führt und dass ökonomische Reformen wie in der Vergangenheit nicht mehr möglich sind – er kann sich nicht wie Nasser inszenieren, als ein populistischer Führer mit den Massen hinter sich, selbst wenn er das wollte.

Es gibt wenig Vertrauen in den politischen Prozess, da sprechen die Wahlen eine sehr deutliche Sprache über die derzeitige Lage. Sie haben die Wahlen um einen Tag verlängert, beliebte Talk-Show-Moderatoren haben Nichtwähler als unpatriotisch beschimpft, der Staatsanwalt hat ihnen sogar mit Bußgeldern von 500 Pfund – was für manche Leute anderthalb Monatslöhne sind – sowie einer Haftstrafe von bis zu sechs Monaten gedroht. Es wurde tatsächlich versucht, die Leute mit Einschüchterung an die Wahlurne zu bringen, nur um den Prozess zu legitimieren. Und die Leute sind trotzdem nicht wählen gegangen. Die Schätzungen über die tatsächliche Wahlbeteiligung reichen von 15 bis zu 60 Prozent, nicht 95 Prozent, wie die Regierung behauptet. Das ist eine sehr deutliche Botschaft. Die Aussichten für die Machthabenden sind nicht rosig.

Zur Frage der Reformspielräume: Was hat der Kapitalismus in Ägypten noch anzubieten?
Er hat auch hier nichts Neues anzubieten, nur eine weiter auseinandergehende soziale Schere, die bereits die Bedingungen für den Aufstand vom 25. Januar 2011 geschaffen hatte. Der Kapitalismus ist kein Ding, ich würde eher von einem Geist des Kapitalismus sprechen, der sich im ägyptischen Kontext als eine verwickelte Oligarchie manifestiert, wo die Macht bei denen liegt, die über Kapital verfügen und militarisierte staatliche Institutionen kontrollieren. In Ägypten wird der Kapitalismus in dieser Form diejenigen, die nicht zu diesem Club der Herrschenden gehören, nur noch tiefer in die Krise treiben. Die Preise steigen rasant, weil die Sisi-Regierung den neoliberalen Kurs genauso fortsetzt wie es Mursi getan hat. Gas ist teurer geworden, Transport und Nahrungsmittel ebenso, während die Löhne stagnieren und Jobs schwer zu bekommen sind. Je mehr die Gewähr für ein gutes Leben dahinschwindet, umso mehr nähert sich der Kapitalismus seinem Ende. Die nächste Schlacht wird deutlich gewaltsamer ausfallen.

Um bei den ökonomischen Aussichten zu bleiben: Die allgemeine Lage wirkt sehr instabil, aber es gab in letzter Zeit riesige Kapitalströme aus den Golfstaaten sowie großspurige Entwicklungspläne.
Viele Leute sind noch von den guten Absichten des Regimes überzeugt. Da die Preise steigen, sind viele noch der Auffassung, dass es gut ist, wenn ausländisches Geld ins Land fließt. Diese Zuwendungen oder – in den meisten Fällen – Kredite, ob sie aus dem Golf stammen oder von anderen Banken oder Staaten, sind aber nur sehr kurzfristige Lösungen. Die Regierung ist an einem schnellen Zustrom von Geld als Übergangslösung für die kurzfristigen ökonomischen Schwierigkeiten interessiert, aber innerhalb von fünf bis zehn Jahren wird Ägypten diese Kredite bedienen müssen, was langfristige horrende Auswirkungen haben wird. Aber wer denkt in der derzeitigen Lage schon langfristig? Wenn es also jemanden aus dem Golf gibt, der sagt, er wird neue Flughäfen bauen, um den Tourismus in den Resorts am Roten Meer zu stärken, hat niemand etwas dagegen. Die Leute meinen, genau das sei nötig und dass nur das Militär dafür sorgen kann, weil es Sicherheit bietet.
Die Pläne rund um den Suez-Kanal sind ebenfalls sehr vertrackt und da weiß ich auch nicht, was wirklich passiert. Nasser wurde enorm gefeiert, als er sich gegen die Briten und Franzosen stellte und den damaligen Kolonialmächten den Suez-Kanal wegnahm. Das ist eine große Geschichte im Gedächtnis vieler Ägypter. Aber die Leute haben oft nur ein Kurzzeitgedächtnis. Und wenn man diese ganzen Propagandasender hat, die Tag ein, Tag aus davon sprechen, dass die Entwicklung des Suez-Kanals so viele Arbeitsplätze schaffen wird und neue Firmen und Gelder, die wir dringend brauchen, ins Land bringen wird… Warum sollten wir erwarten, dass die Leute anders darauf reagieren. Wenn die Experten behaupten, dass diese Projekte Arbeitsplätze schaffen werden, dann werden sie Arbeitsplätze schaffen.

Der Suez-Kanal wird als ein nationaler Schatz angesehen. Wenn er uns mehr Geld einbringt, gilt das als großartig. Soweit wir wissen, sind die gesamten Einnahmen aus dem Suez-Kanal in Mubaraks Taschen gelandet. Ich war Teil einer Arbeitsgruppe über Schulden und wir haben keine Ahnung, was mit dem Geld passiert ist. Wenn die Profite aus dem Kanal also wachsen, wo landen sie dann?

Welche Aussichten ergeben sich dann für zukünftige Kämpfe?
Die Aussichten sind nicht nur schlecht. Die unmittelbare Lage ist zwar sehr schwierig, weil viele Freunde nun im Knast sind und im Vergleich zu früher wenig getan werden kann. Wenn man heute demonstriert, riskiert man, sechs Monate bis zehn Jahre lang im Knast zu enden. Uns fehlen also plötzlich alle Mittel, viel zu erreichen. Aber ich habe diese Revolution seit 2011 und auch vorher immer so verstanden, dass wir – ich meine das Milieu, in dem ich mich bewege, das aus politisierten Angehörigen der Mittelschicht besteht – ohnehin keine signifikante Rolle in der Revolte spielen.
Und genau darin besteht die Hoffnung für die Zukunft. Die Zufriedenheit der Leute wird nicht von Dauer sein und in vielen Fällen werden sie unter diesen Bedingungen in der nahen Zukunft gar nicht überleben können. Die Preise sind erheblich gestiegen, allein in den letzten drei Monaten. Treibstoffsubventionen wurden dieses Jahr zweimal gekürzt. Das hat starke Auswirkungen auf Transport- und Lebensmittelpreise – es beeinflusst alles. Das Leben wird teurer. Noch erfreut sich Sisi großer Beliebtheit, aber das kann nicht lange halten. So war es auch mit Sadat: Er war sehr beliebt, als er an die Macht kam, aber als er 1977 Subventionen kürzen wollte, mussten diese Reformen plötzlich wieder zurückgenommen werden aus Angst darüber, was geschehen könnte, nachdem die Leute auf die Straße gegangen waren.

Ich glaube nicht, dass so etwas innerhalb der nächsten Monate geschehen wird, aber irgendwann bestimmt. Die Bedingungen, die die Leute 2011 auf die Straßen brachten, werden in der nahen Zukunft wiederkehren. Und ich glaube, das nächste Mal wird es viel gewaltsamer und zwar von beiden Seiten. Man sollte das, was in den letzten drei Jahren passiert ist, nicht unterschätzen, auch wenn viele mit ihrem Leben dafür bezahlt haben oder noch immer in Form heftiger Haftstrafen dafür zahlen. Das Bewusstsein, das diese Augenblicke der Revolte geschaffen haben, und die verschiedenen Debatten und Mobilisierungen, die sind ungemein wertvoll. Sie haben sehr deutliche Spuren in der breiten Bevölkerung hinterlassen. Es gab über die letzten vier Jahre viele verschiedene Wellen. Schon 2011, 2012 gab es Momente tiefer Depression und man bereute das alles beinahe. Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen.

Besteht für dich Hoffnung, dass die Kämpfe eine neue Qualität annehmen können? Wenn man auf die Jahre seit der sogenannten Revolution 2011 zurückblickt, sieht man, dass die Leute dazu in der Lage waren, Regierungen zu stürzen, es immense Arbeiterkämpfe und eine starke Jugendbewegung für Freiheitsrechte gab. Andererseits haben die Leute erst das Militär gegen Mubarak, dann die MB gegen das Militär und jetzt zuletzt wieder das Militär gegen die MB unterstützt… Nach dem Putsch im Juli 2013 wurden die Massaker des Militärs von vielen akzeptiert. Wie könnte die nächste Kampfwelle aussehen? Eine bloße Wiederholung früherer Kämpfe?
Das ist sehr schwer zu sagen. Und das ist einerseits schlecht für uns, andererseits aber auch schlecht für die Machthaber, weil es jetzt keinen Plan B mehr gibt. Einer der Gründe dafür, dass Mursi und Sisi an die Macht kamen, war, dass sie zu dem Zeitpunkt großen Zuspruch auf der Straße hatten. Die nächste Option? Ich kann mir nach Sisi keine Option vorstellen, die noch großen Zuspruch finden würde.
Ich bin noch nie für eine andere Regierung auf die Straße gegangen. Ich glaube, das System muss wirklich kollabieren, damit eine Art bessere Gesellschaft entstehen kann. Was das jedoch genau heißt, da habe ich keine Ahnung. Und vielleicht ist das auch gar nicht so schlecht. Eine der wichtigen Lehren lautet vielleicht, dass in Ägypten allein, unabhängig von dem, was im Rest der Welt geschieht, nicht viel möglich ist. Es gibt immer diesen Einfluss von außen, sei von den Golf- oder von den westlichen Staaten, die zurzeit mit Waffen und der Ausbildung von Soldaten, mit finanzieller Unterstützung und Handelsabkommen die Machtkonstellation mitbestimmen. Damit es also signifikante Veränderungen in Ägypten geben kann, muss es in diesen anderen Machtzentren auch signifikante Veränderungen geben. Und all das muss breitere Kreise erfassen, anstatt sich in einzelnen Zusammenstößen zu erschöpfen. Meiner Ansicht nach steuern wir auf so etwas zu. Ich weiß nicht, wie das aussehen könnte, aber ich glaube, es liegt in nicht in weiter Ferne.

Philip Rizk ist Filmemacher und Autor. Er lebt in Kairo. Das Interview wurde im Herbst 2014 in Berlin von ein paar Freunden der klassenlosen Gesellschaft geführt.

1. In deutscher Übersetzung hier.

Quelle: Kosmoprolet, 26. Januar 2015

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *