Interview mit “Carsi Berlin” (Beşiktaş)

Von UiSF – Unterwegs in Sachen Fussball

“In den Kriegszeiten waren wir doch für das ganze Volk nichts als Verbrecher und Bazillen. Jetzt wird geschleimt, und ein irrealer Traum geträumt. “Istanbul United” kann auf Dauer niemals existieren.”

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UiSF:
Die türkische Fankultur steht vor einer schweren Prüfung. Die elektronische PassoLig-Fankarte, welche personalisiert ist, wurde eingeführt. Wie ist aus eurer Sicht die Entwicklung der Fankurven bzw wie wurde sie angenommen?

Carsi Berlin:
Natürlich steht diese Maßnahme unter heftiger Kritik. Wie du merkst, weigert sich die Mehrheit der Fans und Zuschauer zu den Spielen zu gehen. Diese Maßnahme wurde ja nach den Protesten im Gezi-Park eingeführt, welche gegen Erdogan gerichtet waren. Nach den Protesten auf der Strasse hat es in den ersten Wochen in fast jedem Stadion Protestaktionen gegeben. In der 34. Spielminute (34 = Ortszahl von Istanbul) haben alle Fans “HERYER TAKSIM HERYER DIRENIS” (“ÜBERALL IST TAKSIM, ÜBERALL IST PROTEST”) gerufen, wo die Sender dann auch immer leise gedreht haben. Eine Schande für die Demokratie. Als Erdogan sah, dass er sich immer mehr vor dem Volk blamierte, brachte er diese Maßnahme, um das in der Zukunft zu verhindern. Der Presse erklärte man die Einführung mit einer Reaktion auf die Ausschreitungen, und “NEBENBEI”, dass man die Politik nicht im Stadion haben will. Diese Kontrollmaßnahme ähnelt schon den Science-Fiction Filmen in Hollywood. Du darfst deine Karte noch nicht einmal einem Freund ausleihen, wenn du nicht gehen kannst. Das Durcheinander mit den normalen Dauerkarten kommt auch noch dazu. Keiner blickt mehr durch. Im Gegensatz ist die Liebe zu den Vereinen sehr groß. Ich weiss selber nicht, wie lange die Fans das durchhalten werden.

UiSF:
Ihr seid sozusagen die “Sektion Berlin”, eines der bekanntesten Fangruppen der Türkei. Erzählt uns doch bitte seit wann es euch gibt, wieviele Mitglieder ihr seid, und wie ihr euch organisiert.

Carsi Berlin:
Carsi Berlin wurde von mir und fünf weiteren Freunden in Berlin gegründet, mit dem Hintergrund, die Kräfte in Deutschland für Besiktas zu bündeln, wenn auswärtige Europapokalspiele anstehen. Anfang der 2000er wurde dann dieser Club hier gegründet, um die Stimmung aus Istanbul hier wiederzugeben. Viele Fans aus Istanbul, konnten lange nicht selbst reisen, weil ihnen einfach das nötige Geld fehlte. Inszwischen kommen die Jungs jedoch in guten Zahlen rüber. Da ich in den 80er und 90er Jahren im Bezirk “Besiktas” aufgewachsen bin, lernte ich die richtigen Leute frühzeitig kennen, und hatte deren Unterstützung. In Deutschland sind wir etwa 250 Leute. Wir verteilen uns in der ganzen Republik, und treffen uns regelmäßig. Mal hier, mal dort. Wir können uns auch alle gemeinsam sammeln. Es kommt einfach auf den Grund an.

UiSF:
Die Zuschauerzahlen in der Türkei sind fast komplett zurückgegangen. Besiktas hat eine Stadionauslastung von nur noch ca. 20%. Ist allein die PassoLig-Karte verantwortlich dafür?

Carsi Berlin:
Dass die Zuschauerzahlen in der Türkei bei jedem Club phasenweise schwanken ist ja nichts neues, aber diese Senkung, in dieser drastischen und anhaltenden Dauer, ist ganz allein der Einführung der PassoLig-Karte zu verdanken.

UiSF:
Steht ihr in regelmäßigem Kontakt zur “Haupt-Sektion” in Istanbul?

Carsi Berlin:
Ich habe schon immer dafür gesorgt, dass die Leute, die hier in Deutschland leben, den richtigen Kern kennenlernen. Wir haben auch oft 150 Karten für die Derbys bekommen, damit man sich gegenseitig besser kennenlernen kann. Der Kern aus Istanbul kam auch oft hierher, und wir haben die Jungs dann 1-2 Tage vor Spielen am Flughafen abgeholt und die Zeit zusammen verbracht. Für mich war das nichts neues, aber für die Jungs hier war es immer fantastisch und hat sie noch mehr aufgeputscht. Bei wichtigen Entscheidungen stehen wir immer hinter ihnen, das ist klar. Auch Hilfsaktionen die in der türkei von Carsi organisiert wurden, haben unsere vollste Unterstützung bekommen. Auch Organisationen für die Kurve in der Türkei – wir arbeiten immer eng zusammen.

UiSF:
Mit welchen Repressionen habt ihr außerdem noch zu kämpfen?

Carsi-Berlin:
Ich denke dass es grundsätzlich nicht anders als in anderen Ländern ist. Stadionverbote, Polizeigewalt etc.! Speziell bei uns ist jetzt das Problem noch, dass wir ständig für Dinge die nicht passiert sind, Stadionverbote bekommen. Ist wohl alles Rache wegen den Protesten. Alle Anführer von Carsi werden angeklagt (Anklage auf “lebenslänglich”). Auch andere, uns nahe stehende Gruppen, bekommen ständig Stadionverbote.

UiSF:
Wer sind eure größten Rivalen und warum?

Carsi Berlin:
Es ist bestimmt sehr bekannt, dass Fenerbahce und Galatasaray, nicht nur wegen der sportlichen Rivalität, unsere größten Rivalen sind. In den 80er und 90er Jahren gab es einen harten Krieg zwischen den drei Fangruppen. Die berühmten Kämpfe in den Nächten vor den jeweiligen Spielen, in denen es viele Verletzte und auch Tote gab, ähnelten schon einem Bandenkrieg (Leute wurden in ihren Bezirken aufgesucht zB.), der irgendwann zum “Alltag” gehörte. Seit 1997 gibt es den “Friedens-Vertrag” zwischen uns drei Fangruppen. Doch kann man nie wissen, was an einem Derbyspieltag passieren kann. Es gibt immernoch einige Fans, die den Vertrag missachten. Zb. gab es einen Toten Fan von Fenerbahce, getötet nach einem Spiel von einem Galatsaray Fan an einer Bushaltestelle. Bei uns ist die Feindschaft zu den beiden sehr groß, weil jeder weiß, das viele unserer möglichen Meisterschaften, zu Gunsten von Fenerbahce und Galatasaray, durch den Einsatz der Club-Präsidenten, deren Lobby, Schiedsrichter etc. verschoben wurden. Ebenfalls stehen wir auf Kriegsfuß mit den Fans von Bursaspor. Sie hassen uns seit 2004, da sie meinen, dass Ihnen unsere Niederlagen am Saisonende den Klassenerhalt gekostet haben. Jahrelang kam es seitens der Bursaspor-Fans überall zu Provokationen. Vorallem im Internet mit diversen Videos. Vor drei Jahren kamen sie das letzte Mal mit 15 Bussen zum Spiel bei uns, wo es dann heftige Zusammenstöße gab. Bei diesen Kämpfen waren auch Waffen eingesetzt worden, was zur Folge hatte, dass vier Bursaspor-Fans mit Messerstichen lebensgefährlich verletzt worden waren.

UiSF:
Sind die Viertel in Istanbul, im normalen Tagesgeschäft, jeweiligen Clubs zugeordnet oder vermischt es sich in der ganzen Stadt?

Carsi Berlin:
Dies ist sehr kompliziert. Besiktas ist auf jeden Fall mit seinem eigenen Bezirk und seinem Stadion, zehn Minuten vom Zentrum des Bezirks entfernt, das wohl Beste von allem. Das schönste vor einem Spiel ist immer der Rausch im Bezirk, und natürlich wird Besiktas dort jeden Tag gelebt. “Carsi” wurde dort gegründet, und alle Mitglieder des Kerns wohnen auch dort. Es gibt auch Leute von uns in anderen Bezirken. Dort ist es dann gemischt. Es gibt viele Stadtviertel, die mehrheitlich zu bestimmten Clubs gehören. In unserem Fall z.B. ist Karagümrük zu etwa 90% Besiktas-Gebiet. Kasimpasa (Europa-Seite) z.B. ist Fenerbahce-Gebiet. Auf ihrer heimischen, der asiatischen Seite Istanbuls kontrollieren sie nahezu alle Bezirke. Galatasaray hat auch sein Stadtviertel, hat aber eine andere Kultur. Die sind überall verteilt. Jeder Bezirk hat eigene Fangruppen verschiedenster Clubs. Viele spielen in eigenen Amateurligen.

UiSF:
Zu welchen Fans pflegt ihr freundschaftliche Kontakte?

Carsi Berlin:
So richtige Freund- bzw. Brüderschaften haben wir eigentlich nicht. Wir haben ein sehr gutes Verhältnis zur Bezirksmannschaft von Karagümrük, was natürlich auch daran liegt, dass sie selbst Fans von Besiktas sind.

UiSF:
Vor kurzem lief der Film “Istanbul United” in den deutschen Kinos. Ihr als “Beteiligte” werden diesen Film ja sicher gesehen haben. Wie fandet ihr ihn?

Carsi-Berlin:
“Istanbul United” ist natürlich wieder so produziert worden, dass es nur um politische Ziele geht. Jeder wollte nach den Protesten davon proditieren. Diese Filmmacher sind auch so. Sie gehen nicht auf die Fan-Details ein. Die Fans wurden versucht positiv darzustellen, indem man hauptsächlich “Gutes” von ihnen zeigt. Aber das stimmt ja so nicht, denn so gute Jungs sind wir nun auch nicht. In den Kriegszeiten waren wir doch für das ganze Volk, nichts als Verbrecher und Bazillen. Jetzt wird geschleimt, und ein irrealer Traum geträumt. “Istanbul United” kann auf Dauer niemals existieren. Das gibt es nicht, und hat es für uns auch nie gegeben. Am Anfang der Proteste, als es wirklich eng wurde, und es teilweise um Leben und Tod ging als die Polizei uns zum Bezirk drängte, kamen tatsächlich tausende Fans von Fenerbahce um zu helfen. Normalerweise unmöglich mit Fener-Trikots in den Bezirk zu kommen, war dies natürlich eine coole Aktion von denen. Aber nur deswegen kann es auf Dauer kein “Istanbul United” geben. Was die Filmemacher z.B. auch nicht erwähnt hatten, ist die Tatsache dass die wichtigste Gruppe von Fenerbahce, die GFB (Genç Fenerbahçeliler), und auch die UltrAslan von Galatasaray nicht mitgemacht haben, da sie allgemein PRO ERDOGAN sind. Die Filmemacher haben auch kein Hintergrundwissen, wie zb. den Vertrag von 97 (dieser verbot den Einsatz von schweren Waffen bei Kämpfen untereinander). Einfach “Istanbul United” rausgehauen.
Die Proteste gehören zu 99% uns. Wir haben drei Wochen durchgehalten, jede Nacht dort übernachtet, täglich unser Leben gegen die Unterdrückung auf´s Spiel gesetzt.

UiSF:
Zu guter Letzt: Wenn du dir etwas, in Zusammenhang mit der Situation in der Türkei, wünschen dürftest,… Was wäre das?

Carsi-Berlin:
Natürlich dass die PassoLig-Fankarte sofort und bedingungslos abgeschafft wird, ganz klar. Außerdem wäre es zu wünschen, dass man Bengalos wieder erlaubt, damit es wieder so wie früher werden kann.

UiSF:
Das war es dann auch schon. Besten Dank für deine ausführlichen Antworten auf unsere Fragen.

Quelle: UiSF, 8. Dezember 2014

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