Interview zu EM-Krawallen „Hooligans sind viel professioneller geworden“

Von Niels Altenmüller

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  • Die Euro 2016 ist bislang geprägt von Ausschreitungen zwischen Fan-Gruppierungen.
  • Gewalt-Höhepunkt war die Auseinandersetzung zwischen russischen und englischen Hooligans im Stadion und auf den Straßen von Marseille.
  • Fan-Forscher Robert Claus erkennt eine Entwicklung der Hooligan-Szene hin zur Professionalität.

Im Interview spricht Robert Claus, Fanforscher und Experte für Hooliganismus, unter anderem über die Vorfälle zwischen englischen und russischen Hooligans in Marseille, professionalisierte Hooligans und mögliche Ansätze zur Präventivarbeit. Seit 2013 arbeitet er in der Kompetenzgruppe „Fankulturen und Sport bezogene Soziale Arbeit“ (KoFaS gGmbH).

Herr Claus, die schweren Krawalle in Marseille liegen jetzt mehr als eine Woche zurück. Seitdem ist es scheinbar ruhiger geworden. Täuscht der Eindruck?

Für ein abschließendes Fazit ist es noch zu früh. Es stehen ja noch ein paar Hochrisikospiele an, man kennt die Paarungen in der KO-Phase noch nicht. Die Chance ist aber hoch, dass wir solche Ausschreitungen wie in Marseille in der Massivität nicht mehr sehen. Einzelne gewalttätige Angriffe zwischen Fangruppen würde ich aber weiterhin nicht ausschließen. Während der gesamten EM gibt es ja konstant „Matches“ zwischen diversen Hooligan-Gruppen. Die laufen dann aber sozusagen geregelt ab: Zum Beispiel 15 gegen 15 an einem Ort. Das hat aber mit diesen barbarischen Szenen in Marseille nichts zu tun.

In Schnellverfahren wurden mehrere Beteiligte zu Haftstrafen verurteilt, andere wurden direkt ausgeliefert. Welche Wirkungen zeigen solche Maßnahmen in der Hooligan-Szene?

Sie haben natürlich eine kurzfristige abschreckende Wirkung. Gefängnisstrafen sind konsequente letzte Mittel. Die wichtige Frage ist allerdings, was UEFA, FIFA und Nationalverbände in den letzten 20 Jahren in Präventivarbeit investiert haben. Russland ist Gastgeber der Weltmeisterschaft 2018. Wir wissen, dass die russische Hooligan-Szene sehr groß und sehr gewalttätig ist. Präventivarbeit müsste mindestens fünf Jahre laufen, damit sie funktioniert. Das ist eigentlich zu spät für die WM 2018. Darüber wird mir zu wenig diskutiert. Die Gefängnisstrafen werden jetzt kurzfristig abschreckende Wirkung haben, aber wenn man weiter in die Zukunft blickt, haben sie eigentlich überhaupt keine Wirkung.

Wie könnten solche Präventionsmaßnahmen konkret aussehen?

Wir haben in Deutschlang ganz gute Modelle, die nicht perfekt sind, aber von denen man zumindest lernen kann. Wir haben mehr als 50 Fanprojekte, die sozialpädagogische Arbeit für Fußballfans leisten. Deren Zielgruppe sind Fußballfans, die zu Gewalt tendieren. Im besten Fall gibt es eine Koordination aus einer sozialpädagogisch-präventiven Arbeit, einer sozialpädagogisch intervenierenden Arbeit und einer strafrechtlich intervenierenden Arbeit. Soziale Arbeit kann nicht alle Probleme lösen, aber sie kann dafür sorgen, dass viele Jugendliche und Fußballfans gar nicht erst in entsprechende Milieus abgleiten.

Zurück zu den Ausschreitungen in Marseille: Die UEFA hat die russische Mannschaft im Anschluss auf Bewährung ausgeschlossen. Spielt das Urteil in den Köpfen der Hooligans irgendeine Rolle?

Die UEFA hat da einen zaghaften Weg gewählt. Es hätte einen Ausschluss gegeben, wenn es abermals zu Ausschreitung im Stadion selber gekommen wäre. Damit hat der Verband örtlich einen ganz kleinen Kreis gezogen.

Insofern hat sich die UEFA nicht getraut, den ganzen Weg zu gehen und Angst vor der eigenen Courage gehabt. Die UEFA befindet sich aber auch in einer sehr misslichen Lage. Den Gastgeber der WM 2018 aus dem eigenen Turnier zu verbannen, ist nicht so einfach für den Verband.

Das wäre ja das Problem der FIFA…

Die FIFA ist zwar eine andere Organisation. Gleichwohl wissen wir ja um den Einfluss des europäischen Verbandes in der FIFA. Der hat ein gehöriges Mitspracherecht.

Haben die Ausschreitungen in Marseille Sie noch überrascht oder war mit Auseinandersetzungen dieser Art zu rechnen?

Ich war von der Brutalität und Massivität der Angriffe sehr überrascht. Ich war allerdings nicht überrascht, dass größere Hooligan-Gruppen nach Frankreich fahren. Wir beobachten ja die Szene und wissen, dass es gerade in Osteuropa große Gruppen an gewalttätigen Fußballfans gibt. Die Trennung zwischen Ultra und Hooligan als zwei Fansubkulturen existiert beispielsweise in Polen und Russland nicht. Die UEFA hat durch die Erweiterung des Turniers auch dafür gesorgt, dass einige Länder – ich denke da an Albanien, Ungarn oder Rumänien – mit größeren Hooligan-Gruppen zum Turnier fahren, die es sonst nicht dorthin geschafft hätten. Es ging letzte Woche ein bisschen unter, dass vor allem auch größere Hooligan-Gruppen aus Ungarn in Frankreich sind. Die Ungarn und Ukrainer wurden auch schon in Stadien mit faschistischen Symbolen wie Hakenkreuz-Tattoos gesichtet.

Inwiefern besteht die Gefahr, dass auch Unbeteiligte in solche Straßenschlachtenwie in Marseille einbezogen werden?

Die Gefahr ist sehr hoch. Bei diesen Drittortauseinandersetzungen, wo sich Hooligan-Gruppen verabreden, gibt es Regeln. Man verabredet zum Beispiel, dass der Kampf mit 15 gegen 15 und ohne Waffen stattfindet.  Das betrifft keine Unbeteiligten.

Bei Geschehnissen wie in Marseille am Alten Hafen ist natürlich eines der großen Probleme, dass wild um sich geschlagen wird. Es entsteht dadurch eine riesige Gruppendynamik, es läuft aus dem Ruder. Jeder, der das gegnerische Trikot trägt, wird angegriffen und verprügelt. Das hatte natürlich letztlich Wirkung auf alle Parteien, weil die französische Polizei irgendwann nicht mehr zwischen Hooligans und normalen Fans unterscheiden konnte.

Lässt sich aus den Marseille-Ausschreitungen eine Entwicklung der Hooligan-Szene in den letzten Jahren ablesen?

Wenn man sich Bilder von Hooligan-Auseinandersetzungen in den 1980er und 1990er-Jahren anguckt, sind das meistens sehr kräftige Herren, die oftmals unter dem Einfluss von Bier standen und im Umfeld eines Spiels gewalttätige Konflikte ausgeübt haben. Hooligans heute haben eine viel bessere Infrastruktur in Bezug auf ihr Training. Nicht wenige betreiben professionellen Kampfsport. Ich glaube auch, dass der Alkoholkonsum deutlich gesunken ist und durch chemische Drogen ersetzt wurden. Das sind Aufputschmittel, die dafür sorgen sollen, dass man konzentrierter und wacher ist und die Angst verliert. Die haben aber nicht so eine berauschende Wirkung wie Alkohol.

Wie wir in Frankreich gesehen haben, sind mittlerweile viele Hooligan-Gruppen mit Handschuhen oder Mundschutz ausgerüstet. Außerdem haben sie Wechselsachen dabei, viele Hooligans in Marseille haben nach den Randalen ihre Kleidung gewechselt und sind im Anschluss eben nicht mehr anhand ihrer Kleidung identifizierbar. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Kommunikation. Die Hooligan-Gruppen kommunizieren verschlüsselt in entsprechenden Foren und Messenger-Dienste. Worauf ich hinaus will: Im gesamten Training, in der Planung und in der Kommunikation ist die junge Hooligan-Generation viel professioneller geworden.

In welchem Maße spielen politische Gesinnungen in der Hooligan-Szene eine Rolle?

Sehr stark. Einige der Hooligans haben ja ihre faschistische Gesinnung offen präsentiert. Ich glaube insgesamt spielt ein sehr gewalttätiges Ideal von Männlichkeit eine Rolle, verbunden mit Nationalismus. Das hat eine starke Rechtstendenz. Nicht alle Hooligans sind Rechtsextrem, aber viele haben zumindest eine rechtsoffene Flanke.

Was unterscheidet denn die Auseinandersetzung auf der Ebene der Europameisterschaft und beispielsweise in der Bundesliga?

Die Auseinandersetzungen bei der Europameisterschaft, einem Wettbewerb der Nationen, haben nochmal eine sehr nationalpolitische Aufladung. Das zeigt sich ja auch nochmal an den Äußerungen des russischen Politikers Lebedew (Vize-Parlamentspräsident, Anm. d. Red.), der seinen Jungs dazu gratuliert hat, dass sie so hart waren. Sie teilen ein sehr gewalttätiges Männlichkeitsideal.

Das Gespräch führte Niels Altenmüller

Quelle: Kölner Stadt-Anzeiger, 21. Juni 2016

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