Journalist über Ultras im Nahen Osten: „Durch Straßenkämpfe gestählt“

Ob Straße oder Stadion – die Ultras des ägyptischen Clubs al-Ahly wissen, wie man Eindruck macht.  Bild: dpa

Von Christopher Resch

Fußball ist eine Arena, in der um politische Kontrolle gekämpft wird, sagt James M. Dorsey. Dort werden gesellschaftliche Tabus zuerst gebrochen.

taz: Herr Dorsey, eigentlich mögen Sie Fußball gar nicht besonders. Warum beschäftigen Sie sich so intensiv mit dem Sport?

James M. Dorsey: Vor fast 30 Jahren musste ich als Korrespondent die mexikanische Fußball-Nationalmannschaft auf ihrer ersten Reise in den Nahen Osten begleiten. Ich habe mich damals dagegen gesträubt, ich war kein Fußballfan und bin auch heute keiner. Rückblickend aber war alles, was heute in der Region passiert, in dieser Reise schon enthalten. Das habe ich erst später realisiert.

Wie meinen Sie das?

Nirgendwo auf der Welt hat Fußball eine so große Rolle gespielt wie in Nordafrika und dem Nahen Osten. Fußball war hier immer ein entscheidender Faktor, für den Aufbau von Nationen und Regimes und für ihr Überleben. Aber eben auch als eine Arena, in der um persönliche Rechte und politische Kontrolle gekämpft wurde. Gesellschaftliche Tabus, wie die Kritik an der Regierung, werden zuerst hier gebrochen. Es gibt zwei Orte, die die Regierung nicht vollständig kontrollieren kann: die Moschee und das Stadion. In der Moschee können die Herrscher immerhin bestimmen, wer auf die Kanzel steigt und predigt. In den Stadien ist das nicht so einfach.

Hat der Fußball auch während der arabischen Aufstände, die Anfang 2011 losgingen, eine Rolle gespielt?

Ohne die Ultras, die organisierten, hochpolitischen Fußballfans, wären die Aufstände anders verlaufen. In Ägypten zum Beispiel sind die Fans nach der religiösen Muslimbruderschaft eine der größten sozialen Bewegungen. Die Ultras hatten sich schon in den Jahren vor der Revolution Auseinandersetzungen mit der Polizei geliefert. Als 2011 die Revolte ausbrach, waren sie die Einzigen, die wussten, wie man den Widerstand gegen die Staatsgewalt organisiert. Sie hatten Erfahrung im Umgang mit Tränengas, waren durch die Straßenkämpfe gestählt und diszipliniert. Mindestens genauso wichtig wie ihr Auftreten als militante Truppe war aber, dass sie die Mauer der Angst vor dem Sicherheitsapparat gebrochen haben.

Monate später, im Februar 2012, starben 74 Fans des Kairoer Clubs al-Ahly in einem Stadion in Port Said. Polizei und Sicherheitskräfte schauten damals nur zu.

Die Attacke auf die Ahly-Fans ging von Unterstützern des Al-Masry-Clubs aus, der in Port Said spielt. Es waren aber auch angeblich unbekannte Bewaffnete dabei. Die meisten Beobachter sehen den Vorfall als eine Art entgleisten Racheakt seitens des Militärs und des Sicherheitsapparats. Den Ultras sollte eine Lektion erteilt werden, sie sollten ihre heftige Kritik an der Regierung zurückfahren. Seit Port Said sind außer zu internationalen Spielen keine Zuschauer in den Stadien zugelassen.

Wie geht der jetzige Präsident Abdel Fattah al-Sisi mit den Fußballfans um?

Im Februar sind 22 Mitglieder der Ultras White Knights, der Fans des größten Ahly-Rivalen Zamalek SC, während einer Massenpanik vor einem Kairoer Stadion gestorben. Der Profifußball in Ägypten wurde daraufhin zum wiederholten Maße ausgesetzt. Gerade wird zwar über eine Wiederaufnahme diskutiert, aber die Fans sollen weiterhin außen vor bleiben.

Häufig nutzen autoritäre Machthaber sportliche Großereignisse als Ventil, mit dem man kurzzeitig Druck aus dem Kessel nehmen kann. Warum tut Ägyptens Präsident al-Sisi das Gegenteil?

Darauf habe ich wirklich keine Antwort. Vielleicht ist die Regierung einfach nicht so clever. Die aktuelle Strategie ist ja, alles und jeden zu unterdrücken. Und wenn das dein genereller Ansatz ist, bleibt wohl kein Raum für eine intelligentere Politik.

Wo stehen Clubs und Fans politisch?

Die meisten Clubs in der Region fühlten sich bestimmten politischen Richtungen zugehörig. Al-Ahly stand seit der Gründung im Jahr 1907 gegen die Kolonisierung Ägyptens. Zamalek hingegen wurde von einem Belgier gegründet. Die Nähe zu politischen Haltungen setzte sich bis in die Gegenwart fort und übertrug sich auch auf die Spieler. Ibrahim Hassan zum Beispiel, ein in Ägypten sehr bekannter Fußballer, hatte bis in die Tage der Revolution hinein das Mubarak-Regime unterstützt. Anders die Ultra-Gruppierungen. Die entstanden etwa ab 2007 aus der Opposition gegen das Regime und setzen sich aus allen möglichen Schichten zusammen. Ein politisches Programm haben sie aber nicht. Eine Ausnahme sind die Ultras Nahdawy. Das sind Fans aus beiden Lagern, die eint, dass sie auf Seiten der Muslimbruderschaft und des abgesetzten Präsidenten Mursi stehen.

Gibt es auch Frauen unter den Ultras?

Es gibt natürlich weibliche Fußballfans. In der ganzen Region gibt es nur zwei Länder, in denen Frauen nicht in die Stadien gelassen werden, Saudi-Arabien und Iran. Trotzdem ist Fußball dort im Großen und Ganzen ein männlicher Sport. Auch die Ultra-Bewegung ist ein Männerding, was letztendlich nur die Gesellschaft reflektiert. Größere rein weibliche oder gemischte Gruppen sieht man in arabischen Ländern äußerst selten.

Angeblich schaut sich auch der US-Auslandsgeheimdienst CIA Fußballspiele an, um zu erfahren, wie die Gesellschaften im Nahen Osten ticken.

Dafür gibt es jedenfalls eine Menge an Hinweisen. Bei Wikileaks etwa finden sich viele Geheimdokumente dazu. Fußball wurde in Depeschen mindestens zu Algerien, Iran und Jordanien regelmäßig erwähnt.

Wenn Fußball der Gradmesser wäre: In welchem Land brodelt es gerade am meisten?

In jedem Falle Ägypten, aber ich würde auch nach Jordanien und Algerien schauen. In Algerien gibt es eine stille Übereinkunft zwischen Fans und Sicherheitskräften: Im Stadion könnt ihr machen, was ihr wollt – nur nicht draußen. Die Gewalt in den Stadien steigt allerdings mehr und mehr an.

Auch in Deutschland gibt es politisierte, gewaltbereite Fußballfans, wie zum Beispiel die Hooligans gegen Salafisten. Wie ordnen Sie das ein?

Es gibt ja Menschen, die behaupten, dass Fußball die Leute vereinigen und Liebe und Frieden schaffen könnte. Aber so funktioniert es nicht. Fußball ist ein Spiegel der Gesellschaft. Dinge, die im Fußball passieren, geschehen nicht isoliert. In Europa kann man derzeit beobachten, wie in Zeiten gesellschaftlicher Dynamik die politische Rechte stärker wird. Das spiegelt sich im Fußball. Diese Bewegungen richten sich aber nicht ausschließlich gegen Muslime, sondern gegen das, was sie als anders wahrnehmen. Es kam ja auch zu antisemitischen Vorfällen. Zum Glück gibt es Gegenbeispiele wie die Fans von Newcastle United, die sich explizit gegen den britischen Pegida-Ableger stellen.

Quelle: taz, 15. Mai 2015

 

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *