Am Wochenende starben bei Ausschreitungen in Casablanca zwei Fußballfans. Über 50 wurden verletzt. Eine tragische Geschichte – und leider kein Einzelfall.
Das Stade Mohamed V ist ein Koloss. Ein Stadion, das neben all den modernen Multiplexarenen wie ein Sehnsuchtsort für Fußballromantiker wirkt. Aber es ist eben auch eine Falle. Ein Betonklotz, in dem es kaum Notausgänge gibt und wenig bis gar kein Sicherheitspersonal.
1955 wurde es erbaut, seitdem hat die Stadt es angeblich zweimal renoviert. Man fragt sich nur, wo. Wer die Tribünen dieses prämodernen Ungetüms erklimmt, muss vorbei an offenen Leitungen, tropfenden Wasserrohren, herausgerissenen Sitzschalen. Unter der Tribüne dieses Stadions sieht es aus, als hätte man die Eingeweide einer ausgestorbenen Riesenbestie freigelegt.
Die offizielle Kapazität des Stadions beträgt 50.000 Zuschauer, oft sind aber mehr als 80.000 auf den Tribünen. Zuletzt war das Ende Dezember der Fall, als die beiden großen Klubs im Derby de Casablanca aufeinandertrafen: Raja gegen Wydad, Grün gegen Rot, Hoffnung gegen Liebe. Wir waren damals vor Ort (die Reportage lest ihr in 11FREUNDE #171).
Ein Wimmelbild des Wahnsinns
Es war ein Gedränge und Getöse. Man konnte imposante Choreos bestaunen und wurde von der Lautstärke in die Knie gezwungen. Wer bislang nur Bundesligastadien gewöhnt war, musste sich fühlen, als sei er von einem Justin-Bieber-Konzert direkt vor der Bühne eines Manowar-Gigs gelandet.
Aber es war auch ein Wimmelbild des Wahnsinns. Schon vor dem Anpfiff sprangen Fans über die Zäune, ohne Tickets, dafür mit Pyrotechnik in den Rucksäcken. Später erklommen einige das Stadiondach und bekämpften sich dort oben unter den Augen von Zehntausenden. Andere Anhänger fielen beim Versuch das Dach zu entern, einfach von Mauervorsprüngen zurück in die Kurve – bis irgendwann die Polizei kam und mit Knüppeln auf die Fans losging. Es gab ein paar Verletzte, alles halb so wild. »Ein normales Derby«, sagten die Fans.
Am Wochenende starben hier beim Spiel zwischen Raja Casablanca und Chabab Rif Al Hoceima zwei Menschen. Einige Medien berichten davon, dass es zwischen den Fans der beiden Klubs zu Auseinandersetzungen gekommen war. »Das ist falsch«, sagt Ayoub Basri, Sportjournalist aus Casablanca. In Wahrheit sollen die zwei großen Raja-Ultragruppen aufeinander losgegangen sein: die »Green Boys 2005« und die »Ultras Eagles 2006«.
Kurveninterner Territorialkampf
Es ist ein kurveninterner Territorialkampf, der sich über Jahre zugespitzt hat und der für Außenstehende extrem grotesk erscheint. Schließlich unterstützen die Gruppen dasselbe Team, machen gemeinsame Choreos und haben sogar denselben Capo. Es gab sogar mal Bestrebungen, die Gruppen zusammenzuführen, aber die Idee scheiterte, weil die »Green Boys« ihre Vormachtstellung und exponierte Stellung als erste Ultragruppe Marokkos nicht aufgeben wollten.
Schon bei unserem Besuch im Dezember 2015 konnte man die Kämpfe aus der Ferne beobachten. Immer wieder wogten die Menschenmassen in der Curva Sud hin und her, weil sich Raja-Ultras gegenseitig an die Wäsche wollten. Noch extremer, so berichtet Basri, soll es bei einem Spiel der Afrikanischen Champions League 2012 (gegen Chelsea Berkum) und im Nord-Afrika-Cup-Finale immer Sommer 2015 zugegangen sein.
Der tragische Vorfall am Samstag ist der vorläufige Höhepunkt eines Krieges in den eigenen Reihen – und es steht in einer Serie von zahlreichen Fanausschreitungen in Marokko aus den vergangenen Jahren.
Im Internet kann man von allerhand Horrorgeschichten lesen, die sich zunächst wie Übertreibungen lesen, die man aber vor Ort gerne bestätigt bekommt. In einem Blog berichtet etwa jemand von einem Raja-Fan, der einst einem rivalisierenden Ultra das Kinn abgeschnitten haben soll und aus Angst vor Rache in den Senegal geflohen sei.
In Zeitungsberichten kann man auch über den Wydad-Anhänger Hamza Bakkali lesen, der 2012 bei Ausschreitungen ums Leben kam. Oder von den Vorkommnissen im März 2014. 150 Wydad-Anhänger stürmten damals mit Messern das Trainingsgelände ihrer eigenen Mannschaft, weil sie mit der Leistung unzufrieden waren und den Spielern Korruption vorwarfen.
Die Polizei, Verbände und Vereine reagieren bis heute mit harten Repressionen – wer Fußballfan ist, gilt als verdächtig. Nach einer Randale im Jahr 2005 wanderten 200 Wydad-Anhänger kollektiv ins Gefängnis, einige standen nur zur falschen Zeit am falschen Ort.
»Sie wollen, dass man sie wahrnimmt!«
Erst seit kurzem beschäftigen sich marokkanische Wissenschaftler mit dem Phänomen der Gewalt im Fußball. So etwa der Soziologe Abderrahim Rharib, der für pädagogische Ansätze plädiert, für Fanprojekte oder wenigstens Mediatoren. Schließlich seien die Fans nicht die wilden und ungebildeten Monster, die man in der Presse gerne zeichnet.
In einer Umfrage unter 600 Fußballfans fand er jedenfalls heraus, dass die Mehrheit der Fußballschläger nicht aus sozial schwächeren Verhältnissen kommt, sondern aus der Mittelschicht, viele haben gute Jobs oder studieren. In Europa weiß man mittlerweile, dass Fußballgewalt kein Phänomen sozialer Randgruppen ist, bei den marokkanischen Behörden sorgten Rharibs Erkenntnisse für Verwunderung. »Wir müssen mit diesen Jungs reden«, schrieb er in einem Fazit. »Sie wollen, dass man sie wahrnimmt!«
Am Samstag konnte man alles ganz genau sehen. Aus allen Perspektiven. Der Sportreporter Ayoub Basri war im Stadion. Eigentlich wollten die Raja-Fans an diesem Tag den 67. Geburtstag ihres Klubs feiern, weswegen sie allerhand Choreos und Pyroaktionen vorbereitet hatten.
Viele Fans fordern nun das Ende der Ultras
In der 67. Minute initiierten die »Eagles« die erste Feuershow, die wiederum von den »Green Boys« boykottiert wurde. Nach dem Spiel wiederum feierten die Fans der »Green Boys« gemeinsam mit den Spielern vor der Curva Sud den 2:1-Sieg, was allerdings die »Eagles« in Rage versetzte, sie fühlten sich ausgeschlossen. Kurze Zeit später flogen die ersten Feuerstäbe und Steine, zahlreiche Fans suchten das Weite, aber es war zu spät. In den Kämpfen starben nicht nur zwei Menschen, ein 17- und ein 21-Jähriger, über 50 wurden zudem schwer verletzt.
»Viele Raja-Fans fordern das Ende der Ultras in Casablanca«, sagt Basri. Sie seien erschrocken über die Gewalt, aber auch darüber, dass sich bislang niemand aus den verantwortlichen Gruppen öffentlich für die Tragödie entschuldigt hat. Auch die Zeitung »Le 360 Sport« fordert, das Verbot von Ultragruppen prüfen zu lassen.
Die Polizei und der Verband reagierten derweil mit den üblichen Festnahmen und Geisterspielen. Fünf Spiele soll Raja ohne Publikum austragen, eventuell werden die Fans auch noch für die Auswärtsspiele gesperrt. 31 Verdächtige wurden in Gewahrsam genommen. Und danach? Vermutlich geht alles von vorne los. Von Mediatoren oder Fanarbeitern ist jedenfalls weiterhin nichts zu lesen. Ebenso wenig von einer erneuten Renovierung des Stadions oder verbesserten Sicherheitsvorkehrungen.
In 11FREUNDE #171: »Inshallah! Unterwegs mit den Ultras von Wydad beim Derby de Casablanca«. Ihr könnt das Heft noch über unseren Shop beziehen oder für eure Tablets und Smartphones runterladen: Android hier, Apple dort.
Quelle: 11 Freunde, 21. März 2016