Von Daniel Ryser, Philipp Natzke (Text) und Kristina Cerniauskaite (Fotos)
Die verfeindeten ukrainischen Ultras und Hooligans von Dynamo Kiew, Arsenal Kiew und Schachtar Donezk haben einen Waffenstillstand vereinbart. Der neue gemeinsame Feind von rechtsextremen und antifaschistischen Gruppen heisst Russland. Ein Besuch in Kiew.
Sergej und Alex, die uns in Kiew am Flughafen abholen, entschuldigen sich, dass der silbergraue Lexus mit den getönten Scheiben stinkt wie ein moderndes Secondhandlager: Hunderte Armeeoveralls hätten transportiert, schusssichere Westen ins Kriegsgebiet gebracht werden müssen.
Die beiden jungen Männer von Dynamo Kiews Hooligangruppe «Trudowi Rezerwy», zu deutsch «Arbeitskraftreserve», investieren ihre Freizeit, um die Truppen – die freiwilligen wie auch jene der heruntergekommenen ukrainischen Armee – mit Material zu versorgen: mit Kleidung, Kampfgerät, Nahrung. Die Armee, sagen sie, sei komplett heruntergewirtschaftet, zerfressen vom «ukrainischen Krebs», wie Alex sagt, der Korruption. Dieser Krebs, sagt er, sei auch der Grund, warum er als Anwalt, sein eigentlicher Beruf, viele Fälle ablehne: «Häufig bräuchte ich keine juristischen Kenntnisse, sondern nur ein Scheckbuch.»
Es ist nicht nur die Korruption, die bei vielen in der Ukraine Zweifel an der Kampfbereitschaft der ukrainischen Armee aufkommen lässt: Unter Expräsident Wiktor Janukowitsch, sagt Alex, habe der Verteidigungsminister mit russischem Pass die Armee atomisiert, während der Innenminister die Nationalgarde ausbaute, um prowestliche Proteste zu unterdrücken. Die «Maidan-Revolution» mit rund hundert Toten, die sich am Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union entzündet hatte, spülte Janukowitsch letztlich aus dem Amt; das Misstrauen blieb.
Auftritt einer neuen Generation
Während wir in die Stadt fahren, zeigt uns Alex auf seinem Smartphone Fotos, die ihn, der neun Jahre in der ukrainischen Armee diente, zeigen, wie er aus nächster Nähe auf schusssichere Westen schiesst. Die eine hält den Schüssen stand, die andere ziert nun ein Loch. Die Armee habe Geld für den Kauf neuer Westen erhalten, doch das Geld sei veruntreut, die Soldaten mit minderwertigem Material ausgerüstet worden. «Seither sammeln wir Spenden, kaufen damit in Polen taugliche Westen und schmuggeln sie über die Grenze.» Die Sammlung läuft öffentlich über Facebook. Jeder eingegangene Betrag wird im Internet aufgelistet, jeder Kauf, jede Frontlieferung wird mit Fotos dokumentiert.
«Wir», das sind die Hooligans und Ultras des dreizehnfachen sowjetischen sowie dreizehnfachen ukrainischen Meisters Dynamo Kiew. Als 2013 Expräsident Janukowitsch StudentInnen, die für eine EU-Integration demonstrierten, von Sondertruppen zusammenschlagen liess, formierten sich die Hooligans und Ultras, um künftige Demonstrationen zu schützen. Seither tut sich die europäische Linke schwer mit der Ukraine: Kann man eine Revolution unterstützen, die unter anderem von Rechtsextremen geschützt und mitgetragen wird?
«Der eigentliche Protest und die Anliegen der Studenten hatten uns anfangs nicht interessiert», sagt Dexter, einer der Anführer der Ultras von Dynamo Kiew. «Wir waren gerade von einem Auswärtsspiel in Belgien zurückgekehrt, als wir sahen, wie die friedlich demonstrierenden Leute von vermummten Polizisten fast totgeschlagen wurden. Von da an ging es nur noch darum, das Volk vor dem Regime zu schützen.» Die Ultras hätten sich zuerst nicht als geschlossene Gruppe dem Protest angeschlossen, sondern vereinzelt, «jeder so, wie er wollte». Erst als Polizisten Steckbriefe einzelner Fussballfans in der Stadt verteilt hätten, habe man als Gruppe zusammen einen Aufruf verfasst.
Der Maidan und vor allem die jetzige Situation im Osten des Landes habe einen bislang nicht gekannten, breiten Nationalismus entfacht. «Wir Hooligans sind grosse Patrioten. Deswegen ist es für uns auch selbstverständlich, die Truppen mit Sammlungen zu unterstützen oder als Teil der Bataillone an die Front zu fahren. Aber in einem grossen Teil der Bevölkerung existierte bis vor kurzem kein wirkliches nationales Bewusstsein.»
Viele der Ultras und Hooligans repräsentieren dabei eine neue Generation: Sie wurden um 1989 geboren und kennen die Sowjetunion nur aus dem Geschichtsunterricht und durch die in der Metropole allgegenwärtige realsozialistische Architektur. Sie sagen, sie würden am liebsten in einem unabhängigen Land leben, in einem, das «so wie die Schweiz» ist. Doch zurück wollen sie auf keinen Fall. Das sagen sie alle: «Wenn wir vor die Wahl gestellt werden, ob Russland oder Europäische Union, dann ist der Fall klar: EU.»
An den roten Ampeln im Hauptstadtverkehr sammeln Frauen und Männer Geld für Farbe, um die verrosteten und verstaubten Geländer in der Hauptstadt blau und gelb anzumalen, in den Nationalfarben. Das Radio spielt Lana Del Rey, und die Sonne geht unter. In Kiew, sechshundert Kilometer entfernt von Donezk, spürt man nichts vom Krieg.
Später zeigt uns Pavel, ein stadtbekannter Hooligan, auf seinem Laptop «Feld-Wald-und-Wiesen»-Aktionen der Hooligans von Kiew, brutale Schlachten gegen Hooligans aus Russland: 50 gegen 50, 120 gegen 120. Und so weiter. Und dann, bloss einen Mausklick weiter, sieht man zum Teil dieselben Leute, wie sie sich in Donezk Schiessereien mit russischen Separatisten liefern. Auch die Kleidung ist zum Teil dieselbe wie bei ihren Hooliganschlachten: In den szenetypischen Turnschuhen von New Balance klettern sie über Mauern, die Kalaschnikow im Anschlag.
«Noch vor einem Jahr waren wir normale Hooligans und Ultras», sagt Alex. «Inzwischen haben sich über hundert Leute aus unserer Fankurve den Freiwilligenbataillonen angeschlossen. Und nun kommen die ersten Särge zurück von der Front.» Die Leute, denen in Kopf und Hals geschossen wird, sind häufig gerade mal knapp zwanzig. Auf Vk.com, dem russischen Facebook, posieren die jungen Männer der Ultras und der Hooligans an der Front mit ihren Gewehren vor der Kamera. Rechtsextreme propagieren dabei «Sieg oder Wotan», Antifaschisten bekämpfen den «russischen Imperialismus». Der grösste Feind: die Schwulen.
«Wer nicht hüpft, ist ein Russe»
Irritiert erzählt Alex, der Hooligan von Dynamo Kiew, der wie viele seiner Kollegen nur wenig Alkohol trinkt und stattdessen viel Boxtraining betreibt, wie er sich auf dem Maidan mit einem Polizisten prügelte und wie ihm dabei ein Antifaschist zu Hilfe geeilt sei. Als wir zusammen in Kiews Olympiastadion das EM-Qualifikationsspiel der ukrainischen Nationalmannschaft gegen die Slowakei besuchen, begegnen wir in der Kurve der Ultras Kiew einem jungen Mann mit einem T-Shirt der «Ultras Donezk» – den Erzfeinden Kiews. Das ganze Stadion, und mit ihm auch der Donezk-Ultra, springt und singt «Wer nicht hüpft, ist ein Russe».
Alex spürt unsere Verwunderung. «Früher prügelten wir uns ins Spital. Heute spielen alte Feindschaften keine Rolle», sagt er, den Blick auf den Donezker Ultra gerichtet. «Im Januar haben alle ukrainischen Ultragruppen ein Friedensabkommen geschlossen. Man verhält sich neutral.» Man wolle nicht künstlichen Krieg spielen, wenn richtiger Krieg herrsche.
Als im Februar korrupte ukrainische Polizisten die Daten der Donezker Ultras an russische Separatisten weiterleiteten und diese daraufhin Tot-oder-lebendig-Steckbriefe verteilten und die Häuser der Familien durchsuchten, flüchteten die Ultras aus ihrer Heimat und tauchten in Kiew unter.
Das nationale oder zumindest antirussische Bündnis hat auch zu einem Zerwürfnis zwischen russischen und ukrainischen Antifaschisten geführt, erzählt Anton, ein Anhänger von Arsenal Kiew, dessen antifaschistische Ultragruppe sich in den letzten Jahren viele brutale Schlägereien mit den Leuten von Dynamo Kiew geliefert hatte.
«Sie werfen uns vor, mit Nazis zu kooperieren», sagt Anton. Putins Vorgehen aber habe nichts mit Antifaschismus zu tun, sondern mit Imperialismus. Man kann es im Internet sehen: Ihren kleinen, rostigen Bus, mit dem die Antifaschisten an die Front gefahren sind, zierte ein grosses Anarchiezeichen auf der Rückseite. Man sieht junge Männer im Donezbecken in T-Shirts der Antifaschistischen Aktion posieren, mit Sturmhauben und Kalaschnikows.
«Zehn von uns kämpfen im Moment in verschiedenen Bataillonen», sagt Anton. «Für welches Bataillon man kämpft, hängt in erster Linie davon ab, wo gerade Platz ist.» Zwei der linken Ultras würden seit einigen Wochen von den Separatisten festgesetzt. Er habe damals nur einen kurzen Anruf erhalten, dass es ihnen gut gehe. «Mehr weiss ich nicht», sagt Anton.
Wie die Ultras von Dynamo hätten auch sie sich schon auf dem Maidan eingebracht. Nicht nur als Schutztruppe, sondern als Köche, zum Schneeschaufeln, Ausharren. Und wie die Ultras von Dynamo erzählt Anton die Geschichte von Leuten, die angeschossen wurden, die ins Krankenhaus gebracht wurden und dort aus offenen Fenstern sprangen, um Attacken der Polizei zu entgehen. Von Leuten, die von ÄrztInnen in Büros versteckt wurden, um sie vor Übergriffen zu schützen. Von jungen Männern, die sich bewaffneten und rund um die Uhr ihre verletzten Freunde bewachten. Von sicheren Krankenstationen, die in Wohnungen eingerichtet wurden. «Noch immer sind viele Leute, von denen das letzte Lebenszeichen war, dass sie ins Krankenhaus eingeliefert worden waren, spurlos verschwunden.»
Und der Rechte Sektor? «Die haben bei den Präsidentschaftswahlen 0,7 Prozent der Stimmen erhalten», sagt Anton. «Ich halte die Organisation für einen aufgeblasenen Mythos. Ich habe keine Angst vor ihnen.» Selbst den Sturz der Lenin-Statue während der Proteste könne er als Antifaschist irgendwie nachvollziehen: «Die Statue war für die Leute zu einem Symbol für den russischen Totalitarismus geworden. Gleichzeitig war der Sturz aber auch ein Symbol dafür, wie viel hier bei den Menschen durcheinandergeraten ist.» Man suche sich die Feinde lieber im Kleinen oder in Symbolen, statt eine gemeinsame Sprache zu finden. Das Hauptproblem der Ukraine, sagt Anton, sei nicht politischer Extremismus, sondern Korruption.
Die grössten Feinde: Schwule, Serben, Russen
Im Durcheinandertal: Die linken Ultras von Arsenal Kiew sind mit ihrer politischen Haltung in der nationalen Fanszene eine krasse Minderheit. In der Hinterhofbar, in der die Ultras von Dynamo Kiew ihre Fahnen malen, tragen die jungen Frauen T-Shirts mit Joy-Division-Logo, die Männer sehen aus wie bekiffte Skater oder bierfreudige Schwinger. Man interessiert sich für lokales Bier, westliche Mode, Musik und Autos. Nichts in der Atmosphäre deutet auf politischen Extremismus hin, doch neben den Fahnen von Katalonien und dem Baskenland und Jamaika hängt auch eine White-Power-Flagge – ein rechtsradikales Symbol.
Und es ist den jungen Ultras wichtig zu betonen, dass sie genau das sind: rechtsradikal. Viele von ihnen haben auch aufgehört, die Nationalmannschaft zu unterstützen, seit dort ein Brasilianer und ein Kroate spielen.
«Wir hassen Kommunisten und Schwule», sagt Dexter und klingt dabei wie jemand, der eine Selbstverständlichkeit kundtut, oder einer, der beim Feierabendbier nebenbei erzählt, dass ihn Tennis mehr interessiert als Volleyball. «Ich weiss, dass ihr aus dem Westen das nicht verstehen könnt, aber hier ist das einfach so.»
Die Abscheu gegenüber Homosexuellen sitzt bei den Ultras und Hooligans von Dynamo Kiew tief. Tief wie die Abscheu vor Putin und den Separatisten und den «Prostituierten Russlands». Gemeint sind serbische Hooligans, die sich, so heisst es in der Szene, in grosser Zahl den russischen Separatisten angeschlossen haben sollen. Man kann problemlos darüber reden, dass in Kiew mehr als die Hälfte der Leute russisch spricht und dass das doch eigentlich kein Problem ist. Oder über die verhassten Moskauer Hooligans, die einen bei verabredeten Schlägereien so brutal zusammentreten, bis man nur noch schwarz sieht. Oder über die verhasste Antifa, die im Donbass plötzlich auf derselben Seite steht. Aber nicht über Homosexuelle. Kein Wort. «Im Kommunismus», sagt Pavel, die eigene Abneigung rechtfertigend, «ist man dafür im Gefängnis gelandet.»
Jeeps aus Hildesheim
Gekauft wird alles: wasserdichte Stiefel im Sportgeschäft, Nachtsichtgeräte und Kampfhandschuhe aus Polen, Schweizer Armeeponchos, schusssichere Westen, Helme, stapelweise Dosenfood, Ersatzmagazine und Munition für Kalaschnikows, Decken. Am nächsten Tag führen uns Alex und Sergej ins Hauptverteilzentrum. Ältere Frauen sitzen hinter Laptops: Hier wird registriert, was die einzelnen Bataillone und auch die Armee brauchen, registriert, was an Spenden hereinkommt, und dann wird das Material in weissen VW-Bussen an die Front gefahren.
Zehn Toyota-Jeeps, in Hildesheim gekauft, wurden hier von Physikstudenten zu gepanzerten Fahrzeugen umgebaut. Soeben wurde per Fedex ein modernes Feldspital geliefert. Drei Krankenwagen gibt es auch, und Michail, der als Produktmanager in Dietlikon gearbeitet hat, erklärt uns, dass man mit einem kleinen Armeespaten, wie sie sich hier bis unter die Decke stapeln, auch wunderbar den Kopf eines russischen Kosaken abtrennen könne. «Ich habe es selbst vor ein paar Tagen auf einem Video gesehen», sagt er und zündet sich erneut eine Zigarette an und meint, die Arbeit hier, sie zehre an seiner Gesundheit. Aber er sehe keine andere Möglichkeit: «Ich habe meinen Job gekündigt, um mein Land zu verteidigen.»
Vom geächteten Hooligan zum offiziellen Polizisten
Wenn man in diesem Hinterhof steht, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren: Hier kämpft eine eigentliche Witzarmee, unterstützt von einem Heer von Freiwilligen, an Laptops sitzenden Hausfrauen oder kampfbereiten Hooligans, gegen eine der mächtigsten Armeen der Welt.
Zumindest wenn man davon ausgeht, dass hinter den russischen Separatisten letztlich Wladimir Putin steht. Und davon gehen hier alle aus. Das Motiv: eine grosse Kränkung und der Traum von einem neuen Grossrussland. Ein Land, das viele der jungen Menschen in der Ukraine nie erlebt haben.
Während unserer Reise treffen wir einen ausländischen Diplomaten, der die Lage genau beobachtet, hier aber aufgrund seiner Stellung nicht namentlich genannt werden darf.
Ein Drittel der ukrainischen Streitkräfte setze sich aus Freiwilligen zusammen, sagt er, und legt uns eine Karte mit den Logos der über achtzig Bataillone beider Seiten vor. Offiziell sind die ukrainischen Freiwilligentruppen dem Innenministerium unterstellt und somit dem Völkerrecht verpflichtet. Man habe jedoch zuverlässige Informationen, sagt der Diplomat, dass es auf beiden Seiten zu Kriegsverbrechen gekommen sei, dass die russischen Separatisten in den eroberten Gebieten einen Piratenstaat geschaffen hätten, «in dem es zu erheblichen Verbrechen kommt». Oberste Priorität habe deshalb die Frage, wie bei einer Beendigung des Konflikts die Bataillone wieder entwaffnet werden könnten – man fürchte sich nicht nur vor Kriegsverbrechen, sondern auch vor einem Bürgerkrieg.
Das Runenlogo des ukrainischen Freiwilligenbataillons Asow zum Beispiel erinnert stark an dasjenige der SS; ähnliche Logos sind auch auf russischer Seite zu sehen. Ausgerechnet von jenem Bataillon, das die BBC schon als «Neonazitruppe» bezeichnete, erzählte uns Alex, der Hooligan, folgende Geschichte: «Einige unserer Hooligans haben sich ebenfalls dem Bataillon angeschlossen. Wer dort angenommen wird, erhält einen offiziellen Polizeiausweis und einen Lohn vom Innenministerium. Es ist schon witzig: Unsere Leute waren noch vor einem Jahr gesellschaftlich geächtete Hooligans, jetzt sind sie Polizisten.»
Wir klopfen an die grosse, gelbe Stahltür. Das Rekrutierungshauptquartier der zurzeit über dreihundert Mann starken paramilitärischen Truppe liegt direkt hinter dem Maidan. Man muss bloss am McDonald’s vorbei die Strasse hochgehen, an den shoppenden, schlendernden und Kaffee trinkenden jungen Menschen vorbei, und schon öffnet einem ein Mann mit Sturmmaske, Dolch am Gürtel der schwarzen Uniform und in New-Balance-Turnschuhen die Tür. Und erstaunlicherweise bittet er uns nach kurzer Vorstellung und einigen «Amerikanski»- und «Journalisti»-Funksprüchen hinein.
Wir nehmen Platz auf dem Sofa. Links und rechts von uns sitzen vier Männer zwischen achtzehn und fünfzig Jahren, die dabei sind, Bewerbungsformulare auszufüllen. Sie sehen weniger aus wie kampferprobte Nazisöldner, sondern eher wie Menschen, die zwischen 100 und 200 Euro im Monat verdienen und hier auf eine besser bezahlte Arbeit hoffen.
Natürlich lässt das erste Reichskriegsflaggen-T-Shirt nicht lange auf sich warten. Ein Hüne im Tarnanzug huscht die Treppe hoch, auf seinen Hals sind grosse SS-Runen tätowiert. Der junge Mann, der abkommandiert wird, sich mit uns zu unterhalten, erzählt uns freundlich, dass in dem vierstöckigen Haus jeweils 120 Kämpfer wohnen.
WOZ: Wie wird man Mitglied?
Asow-Kämpfer: Über die Homepage. Oder man kommt einfach hier vorbei, füllt ein Formular aus. Aber die Nachfrage ist enorm: 1200 Leute stehen auf der Warteliste.
Wer ist willkommen?
Alle mit einer nationalistischen Gesinnung, die gegen die russische Besatzung kämpfen wollen. Im Moment suchen wir aber eher Spezialisten: Funker. Scharfschützen. Und Ärzte. Wir brauchen Mediziner!
Und dann erhält man einen offiziellen Polizeiausweis?
Korrekt. Und einen Monatslohn vom Innenministerium. Rund 400 Dollar. Zuerst absolviert man hier aber ein zweiwöchiges Training, und dann geht es an die Front.
Wie sieht das Training aus?
In erster Linie besteht es aus militärischer Taktik.
Stehen auch Ausländer in Ihren Reihen?
Ja klar. Schweden. Kroaten. Amerikaner. Sogar einer aus Alaska. He, he du, komm mal her!
Ein junger Mann mit freundlichem Gesicht, dessen schlanker Körper in einem lockeren T-Shirt, Jeans und Turnschuhen steckt, kommt zu uns herüber. Er spricht fliessend englisch, freut sich, dass Leute aus der Schweiz und Deutschland hier sind, er ist gerade dreissig geworden und entschuldigt sich mit einem charmanten Lächeln, dass er trotzdem aussehe wie ein Säugling. «Ich bin aus Südfrankreich hierhergekommen», sagt der Mann, «um mit anderen Nationalisten für ein gemeinsames Ziel zu kämpfen.»
Wie viele andere Ausländer sei er über Facebook zu Asow gestossen – «Asow-Regierungsbehörde» heisst der offizielle Auftritt. Seit drei Wochen sei er im Land, trainiere täglich, bald gehe es in den Osten, an die Front zum Militär- und Polizeidienst.
Spricht er ukrainisch? Russisch? «Nein, kein Wort. Was mich mit den Leuten hier verbindet, ist die politische Haltung. Und ich hoffe natürlich auch, dass ich auf meine Freunde hier zählen kann, wenn wir in Frankreich eine ähnliche Situation erleben.»
Schliesslich schiebt sich ein Mann vor den gesprächigen Franzosen. Ein Hüne, knapp zwanzig, die durchtrainierte Gestalt steckt in einem Kampfanzug. Mit seinem blonden Irokesen und den hervorstehenden Wangenknochen erinnert er stark an Ivan Drago, den Endgegner von Rocky Balboa in «Rocky V».
«Was reden Sie?», fragt er in perfektem Amerikanisch.
Sind Sie der Mann aus Alaska?
«Ja», antwortet der Hüne, und dann, mit dem Blick eines Bärentöters, sagt er langsam: «Wir werden keine weiteren Fragen beantworten.»
Dann laufen sie, die ausländischen Söldner, die kein Wort Ukrainisch sprechen, und ein paar Einheimische, hinaus in den Hinterhof, wo Hakenkreuze in die Wände geritzt sind. Und dort, mitten in Kiew, direkt neben einem Luxushotel und nur einen Häuserblock entfernt von Kaffeebars und der schwedischen Botschaft, üben die jungen Männer mit Plastikstangen und Kalaschnikows Häuserkampf.
Quelle: WOZ, 02.10.2014