Von Ricordate
GELESEN
Wir Wohlstandsultras
Anmerkungen zu Ralf Hecks „Zwischen Eigentor und Aufstand. Ultras in den gegenwärtigen Revolten“
Einleitung
– zu Beginn 3 Zitate die bereits zum Nachdenken anregen: Nanni Balestrini, bei uns bekannt durch die Ultrà-Pflichtlektüre I furiosi, benennt das alte Laster der Intellektuellen, für die das soziale Subjekt schön, gut und wohlerzogen sein muss. Hm. Ist das noch so? Als Entgegnung fällt mir zwar der Intellektuelle Pasolini und seine Solidarisierung mit dem italienischen Proletariat ein (wozu für ihn auch Polizisten gehörten), aber eben auch zig mehr oder weniger Intellektuelle, die tatsächlich immer etwas von oben herab über – Betonung auf „über“ – diejenigen reden, zu denen sie forschen oder die statt ihrer die Revolution machen sollen.
Im 2. Zitat äußert sich 1982 der damalige Anführer der Roma Ultras über die Ähnlichkeit miteinander verfeindeter Ultras und die potentielle Möglichkeit, eines Tages miteinander vereint zu kämpfen. Tja. Würden wir das beherzigen, hätten Fußballverbände und Politik nicht soviel Macht über uns.
Das 3. Zitat stammt von einem der Ultras White Knights, der 2012 erklärte, dass er den Fußballhooliganismus für eine größere Sache, nämlich die Revolution vernachlässigt habe und damit nicht der Einzige sei. Bei so etwas frage ich mich immer, wie wir in einer ähnlichen Situation handeln würden. Aber wir würden nicht handeln. Wir würden wie immer vor lauter Diskutiererei und Grabenkämpfen zu nix kommen.
– ausgehend von der zunehmenden Beteiligung organisierter Fußballfans an den Aufständen der letzten Jahre (Griechenland, Spanien, Israel, Nordafrika, Türkei, Bosnien-Herzegowina) wird als Ziel des Textes benannt: Versuch zu erklären, wie Ultras entstanden sind und wie ihre Rolle in Klassenkämpfen einzuschätzen ist. Wenn Ralf Heck aber schreibt, auch die derzeitigen Ultra-Gruppen ließen sich nicht von den sozialen Bedingungen trennen, und wenn er einen Bezug zu den Auswüchsen des Kapitalismus bzw. zum Niedergang klassischer Organisationsformen wie Parteien und Gewerkschaften herstellt, fällt mir leider ein oberflächlicherer Grund ein: in Deutschland ist Ultrà einfach Mode und wird von den meisten nur für wenige Jahre als eine unter vielen Jugendkulturen gelebt.
Die Anfänge / England
Interessanter Ausflug in die Entstehungsgeschichte des Fußballs, so wie wir ihn kennen:
– „Der moderne Fußball ist untrennbar mit der Industrialisierung verbunden …“ – das hört sich nicht gerade nach Fußballromantik an. Zumal wir doch alle der Überzeugung anhängen, der „moderne Fußball“ habe erst so richtig mit Pay-TV und der DFL begonnen.
Fußball war anfangs den Eliten und den Bürgerlichen vorbehalten, denn bei Arbeitstagen von bis zu 14 Stunden hatte von den Arbeitern keiner überhaupt die Freizeit sich sportlich zu betätigen. Erst mit Verkürzung der Wochenarbeitszeit und der Einführung des freien Samstagnachmittags vor ca. 150 Jahren konnte Fußball auch zunehmend von Arbeitern gespielt werden.
Welche Folgen wohl die Ausweitung unserer Arbeitszeiten durch prekäre Mehrfachjobs bzw. die zunehmend fehlende Trennung zwischen Arbeitszeit und Freizeit auf den Amateurfußball haben wird?
– viele Arbeiterfußballvereine waren im Grunde Betriebsgründungen, um die Identifikation mit dem Arbeitgeber zu stärken und den sozialen Frieden zu wahren
Warum gibt es eigentlich noch keinen „FC Amazon“ in Bad Hersfeld, oder besser noch: in Leipzig?
Wo kamen die Hools her?
– das sieht Ralf Heck im Zusammenhang mit wirtschaftlichen Krisentendenzen und zunehmender Rebellion gegen die Elterngeneration ab Mitte der 60er Jahre
– interessanter Aspekt zur damals bereits kommerziellen Entwicklung des Fußball: um neben konkurrierenden Freizeitgestaltungen (Kino, TV) bestehen zu können, mussten Stadionbesuche attraktiver werden, weshalb in die Infrastruktur investiert und Wettbewerbe installiert wurden; natürlich konnten sich das nicht alle Clubs leisten, also begann sich bereits vor 50 Jahren auch dort die Schere zwischen Arm und Reich zu öffnen
Zurück zu den Hools:
– Stichworte: preiswerte Stehplätze, Skinheadbewegung, Betonung von Working Class im Gegensatz zu Love&Peace, Ablehnung von Autoritäten, Aufwertung und Abgrenzung durch mehr oder weniger überholte Ideale (Gemeinschaft, Revierdenken, Männlichkeit) bis hin zu Sinnlosgewalt und Rassismus
– die zunehmende Attraktivität der Hooligan-Bewegung wird durch Medienberichterstattung befeuert, wie z. B. Ligatabellen der Fangewalt (dass Wendt&Diekmann darauf noch nicht gekommen sind); zunehmende Sicherheitsvorkehrungen in den Stadien führen zur Verlagerung der Auseinandersetzungen
– einsetzender Niedergang der Bewegung wie immer dann, wenn etwas Mode und Mainstream wird; zur Diskreditierung der Hool-Bewegung haben maßgeblich aber auch die Medienpropaganda nach Heysel und Hillsbourough plus Repression (Unterwanderung, Überwachung) und Umbau der Stadien beigetragen
– politischer Faktor der Hools? Uneindeutig. Es gab wohl Beteiligungen an Streiks und Riots, aber eben auch eine Menge an rassistischem Mist.
Lieblingsanekdote: dass 1977 in London anlässlich eines Marsches der National Front auch Mitglieder der Inter City Firm mitgemacht haben – auf Seiten der Socialist Workers Party
Italien
– Die Gründe für das Entstehen der italienischen Ultrà-Bewegung dürften den meisten von uns bekannt sein. Stichworte: Aufbegehren gegen Rückständigkeit von Politik und Gesellschaft, Instrumentarium von Streiks und Demos (Fahnen, Trommeln, Megaphone, Pyro) wird in die Stadien getragen, Einfluss der britischen Hooligan-Kultur verstärkt den ohnehin schon vorhandenen Regionalismus
– Neu für mich: der Zusammenhang mit der Autonomia-Bewegung, die sich zu Beginn der 70er Jahre mittels Mietstreiks, Hausbesetzungen, Aktionen wie kollektivem Schwarzfahren, „proletarischem Einkaufen“ oder der Gründung von Centri Sociali, Radio- und Zeitungsprojekten in der „Revolutionierung des Alltagslebens“ versuchte. Nach deren Niedergang gegen Ende der 70er Jahre strömten die nunmehr „arbeitslos“ gewordenen Aktivist*innen vermehrt in die Stadien und trugen mit zum Boom der Ultrà-Gruppen bei.
– Ralf Hecks Pessimismus angesichts der aktuellen Lage in Italien teile ich in der Form nicht. Repression, Rechtsruck und mafiöse Strukturen haben viel kaputt gemacht, aber in den unteren Ligen ist in der letzten Zeit ein Wiedererstarken von Fankultur ebenso zu beobachten wie politisch emanzipatorische Ansätze.
„Ultramythen“
– „ACAB“: statt „Gejammer über als willkürlich empfundene Einsätze“ scheint Ralf Heck von uns Wohlstandsultras Kritik an der grundlegenden Rolle und Funktion der Polizei zu erwarten. Ja nun. Die gibt es durchaus. Nützt einem als Praktiker aber nix. Im Wanderkessel laufend oder in der dank Polizeibegleitung überfüllten S-Bahn zur Alten Försterei nach Luft schnappend äußert sich die Kritik eben verkürzt. Ich kann natürlich versuchen, aus dem Angriff auf die Polizeiwache in Rostock eine revolutionäre Aktion mit echten revolutionären Subjekten zu machen. Oder so dann doch wieder nicht?
– „Gegen den passiven Fan“: auch hier empfinde ich die Kritik als nicht berechtigt. Den Menschen, die eine Menge Zeit und Energie in die Gestaltung ihrer Kurve/des Kurvenlebens stecken, „Pseudo-Aktivität“ vorzuwerfen, weil der „erkämpfte Freiraum“ (welcher Freiraum übrigens?) nicht „Ausgangspunkt einer weitergehenden Revolution“ ist, sondern „selbstreferenziell“ bleibt, ist für mich genauso abgehoben und unfair wie eine Wertigkeitshierarchie zwischen Menschen, die „nur“ gegen Nazis kämpfen und nicht „für die Weltrevolution“ oder die sich für Tierrechte, aber nicht für Geflüchtete engagieren.
– „Wir sind der Verein“: die Kritik an den für uns notwendigen „Verrenkungen“ und „Identitätskonstruktionen“ kann ich zum Teil nachvollziehen. Statt einer Gegenüberstellung von kommerziellem Verein und antikommerziellen Ultras würde ich aber eher letzteres hinterfragen. Womöglich passt das „Wir sind der Verein“ dann nämlich doch ganz gut.
– „Nein zum modernen Fußball“: in dieser pauschalisierenden Form wird die Aussage kaum noch genutzt; statt dessen werden einzelne Auswüchse kritisiert bzw. versucht negative Entwicklungen mit Hilfe von Aktionen und „Gewerkschaftsarbeit“ abzumildern/zu stoppen.
Ägypten, Türkei und Ukraine
Alle drei Kapitel sind empfehlenswert, auch für diejenigen, die Artikel dazu z. B. in der Wochenzeitung, im BFU, Transparent oder EF gelesen haben.
Eine inhaltliche Kritik kann und möchte ich mangels Kenntnis der Lage vor Ort nicht äußern.Es kommt mir aber so vor, als sei Ralf Heck hinsichtlich der Erwartungshaltung an die potentiellen „revolutionären Subjekte“ hier weniger streng als bei uns deutschen Ultras.
„Zum Spannungsverhältnis zwischen Eigentor und Aufstand“
Den Überlegungen hinsichtlich der möglichen Entwicklung und gesellschaftspolitischen Rolle von Ultras geht eine ziemlich schonungslose Analyse des Fußballgeschäfts voraus – und da muss ich Ralf Heck Recht geben: in Schule, Ausbildung, Studium, Beruf oder in Abhängigkeit von Transferleistungen wehren wir uns gegen Leistungsdruck und das Recht des Stärkeren. Wir wollen nicht unter dem Aspekt der Verwertbarkeit unserer Arbeitskraft oder Kaufkraft beurteilt werden und versuchen uns Freiräume zu schaffen. Aber jedes Wochenende richten wir in unseren mehr oder eher weniger selbst bestimmten Kurven an das von uns unterstützte Team genau die Ansprüche, die wir für uns selbst ablehnen.
Trotz einiger Kritikpunkte halte ich den Text für eine sehr gute Diskussionsgrundlage und wünsche ihm eine große Verbreitung. Zur Zeit gibt es ihn noch nicht online. Erschienen in Kosmoprolet #4, Bezug hier
Quelle: Zeckenbiss-Online, 06. Oktober 2015