Zwischen Rebellion und Affirmation, oder: Ultras sind politisch und auch wieder nicht

derpassVon Stefan Erhardt (Der Tödliche Pass Heft 79)

Ein Gespräch mit Ralf Heck, dem Betreiber des Blogs „footballuprising“

Seit knapp zwei Jahren gibt es den Blog „footballuprising“ – darin finden sich äußerst lesenswerte Analysen und Reflexionen vor allem zur politischen Wirkweise von Fußballfans, speziell von Ultra-Gruppierungen, die nicht nur in Europa, sondern auch darüber hinaus agieren.

Allerdings geht es nicht um Glorifizierung oder Rechtfertigung, sondern um differenzierte Meinungen und Berichte, etwas, das im Zusammenhang mit Ultras nicht immer zu finden ist, im Gegenteil: Allzu schnell hat sich in den Mainstream-Medien das Bild von den sich selbst feiernden, eine gewisse rebellische Attitüde zelebrierenden, vor allem aber auf Fun oder Krawall aus seienden Die-Hard-Fans geformt und verfestigt. Mit der entsprechenden Abneigung gegenüber dem Auftreten dieser Gruppen – das bisweilen durchaus eine gewisse Arroganz zu zeitigen scheint. Vielleicht aber nur der Versuch ist, eine bestimmte Sicht auf den Fußballsport zu befördern?

Ausgangspunkt für „footballuprising“: die Beteiligung von Fußballfans an den weltweit stattfindenden politischen Protesten und Aufständen. Bilder aus Istanbul oder Kairo sind politisch interessierten LeserInnen sicherlich noch vor Augen – Bilder von Fangruppen, die Proteste gegen Regierungen und Polizeigewalt unterstützten, die tatsächlich in solchen Momenten mehr einer Bürgerbewegung glichen denn einer Blase von Fußballfans.

Fanpolitik gleich Realpolitik? Über diesen Bezug gehen die Beiträge in „footballuprising“. So räsoniert etwa in einem der letzten Blog-Einträge James M. Dorsey unter der Überschrift „Soccer Is Politics” darüber, warum das repressive Regime Ägyptens Fußballfans als eine der größten Bedrohungen ansieht („Why Egypt’s repressive regime considers soccer fans one of its biggest threats“). Dorseys Beitrag ist gespiegelt, zuerst im unabhängigen US-amerikanischen Zweimonatsmagazin „The American Interest“ erschienen, über sein Betätigungsfeld heißt es „a senior fellow at the S. Rajaratnam School of International Studies as Nanyang Technological University in Singapore, co-director of the Institute of Fan Culture of the University of Würzburg and author of the blog The Turbulent World of Middle East Soccer and a forthcoming book with the same title.”

Das ist die Art von Texten, die das Interesse der PASS-Redaktion geweckt haben. Aus dem Grund hat sich Stefan Erhardt mit dem Blog-Initiator und -Betreiber Ralf Heck näher unterhalten.

SE: Als Untertitel trägt der Blog „Organisierte Fußballfans im Spannungsverhältnis zwischen Eigentor und Aufstand“ – „Aufstand“ kann ich verstehen, aber was ist mit „Eigentor“ gemeint?

RH: Gerhard Vinnai hat in seinem Buch Fußballsport als Ideologie geschrieben: „Die Tore auf dem Spielfeld sind die Eigentore der Beherrschten“. Der Untertitel unseres Blogs wurde ganz wesentlich davon inspiriert. Er verweist auf die systemstabilisierende, affirmative Seite dieses kulturindustriell aufbereiteten Sports. Ultras stehen diesem Spektakel zwar relativ kritisch gegenüber. Dennoch sind sie auch Teil desselben. Dieses „am Wochenende mal so richtig die Sau raus lassen“ dient auch als Kompensation für die täglich erlittene Erniedrigung am Arbeitsplatz, in der Universität oder beim Jobcenter. Ab Montag funktioniert man dann wieder ganz normal.

Auch sollte man die Funktion des Fußballsports als sozialer Kitt über alle Klassengrenzen hinweg nicht unterschätzen. Ganz deutlich zeigt sich das bei Fußballweltmeisterschaften. Dort liegen sich dann auf einmal Leute in den Armen, die wirklich nichts miteinander verbindet – außer dem gemeinsamen Trikot. Auch bei den Ultras drückt sich diese Ambivalenz deutlich aus. Sie changieren zwischen Rebellion und Affirmation. Es ist sicherlich kein Zufall, dass sich viele Ultras an den sozialen Aufständen der letzten Jahre beteiligt haben – und dies nicht nur an den Auseinandersetzungen mit der Polizei, wie man vielleicht meinen könnte. Beispielsweise in Ägypten, der Türkei und Bosnien-Herzegowina. Auf der anderen Seite sind jedoch Revierdenken, Männlichkeitskult und simple Freund/Feind-Schemata auch integraler Bestandteil der Ultrakultur. Wenn man so will, die Eigentore auf dem Weg zu einer emanzipierten Gesellschaft.

SE: Was war letztlich der persönliche Anlass, diesen Blog ins Leben zu rufen?

RH: Da gibt es wahrscheinlich zwei, vielleicht auch eher drei Linien, die da zusammengelaufen sind. Zum einen bin ich seit meiner Kindheit leidenschaftlicher Fußballfan. Nicht nur das Geschehen auf dem Rasen, auch das Drumherum hat mich dabei schon immer fasziniert.

Zum anderen interessiere ich mich für jugendliche Subkulturen und war auch selbst mal Teil davon. Vor allem zur Punk- und Skinheadkultur, zu Hardcore sowie der Hausbesetzerbewegung habe ich eine gewisse Affinität. Die Ultrabewegung weist in einigen Punkten durchaus Parallelen dazu auf. Ich selbst war allerdings nie aktiver Fan, schaue mir Fußball eher mit Freunden in der Kneipe an und gehe hin und wieder mal ins Stadion.

Zum dritten bin ich sehr am politischen Weltgeschehen interessiert. Ich habe mich recht intensiv mit den Platzbesetzungsbewegungen im Zuge des arabischen Frühlings beschäftigt und war teils auch während der Unruhen vor Ort: In Athen, Kairo und Istanbul. Dass Fußballfans dort mächtig mitgemischt haben, dürfte ja mittlerweile allgemein bekannt sein. Sie haben für Stimmung auf den Demos gesorgt, beteiligten sich an der Aufrechterhaltung der Infrastruktur auf den besetzten Plätzen und kämpften gegen vorrückende Polizeieinheiten. Zusammen mit einem Freund habe ich dann angefangen, Zeitungsartikel zu sammeln, die sich mit diesem Phänomen – Ultras in den gegenwärtigen Revolten – auseinandersetzen. So kam die Idee zu dem Blog, auf dem wir nun alle Artikel, die wir im Netz finden und die uns interessant erscheinen, posten. Daneben bietet der Blog noch die Möglichkeit, unser eigenes Material – Texte, Fotos, kurze Kommentare und Features – zu veröffentlichen.

SE: In einem Interview mit dem Titel „Lieder der Revolte“ – auch auf den Blogseiten zu finden – steht, „Das Stadion und besonders der Fußball waren schon seit jeher ein Austragungsort für politische Konflikte und immer schon auch ein Ort politischer Propaganda.“ Ist für Ultras der Sport eigentlich nur noch Nebensache? Rangieren die (politischen) Eigeninteressen noch vor der Begeisterung für das Spiel?

RH: Dieses Zitat bezieht sich erst mal auf Politiker, die den Fußballsport zur Aufpolierung ihres Images nutzen und durch ihre Spiel-Besuche Volksnähe demonstrieren wollen. Mussolini war der erste, der erkannte, dass der Fußball für seine faschistische Propaganda nützlich sein konnte, obwohl er sich für diesen Sport nie wirklich interessierte. Auch die Kungelei des DFB und der bundesdeutschen Regierung mit der argentinischen Militärjunta Ende der 1970er Jahre ist vielleicht einigen noch im Gedächtnis. Berlusconi ist ein weiteres gutes Beispiel. Heutzutage kann man nicht nur bei Angela Merkel sehen, dass Politiker kaum eine Gelegenheit auslassen, bei wichtigen Spielen in jede Fernsehkamera zu jubeln. Dieser Sport ist so durchkapitalisiert wie wahrscheinlich kein anderer Bereich der Freizeit, und vor der Machtfülle und dem Reichtum der FIFA dürften selbst viele Staaten vor Neid erblassen. Auch für die Polizei stellen die Fanzusammenrottungen ein geeignetes Experimentierfeld dar: für innovative Maßnahmen der Kontrolle und der Überwachung. Es wäre also zutiefst naiv, davon auszugehen, dass Politik und der professionelle Sport nicht aufs Engste miteinander verflochten wären.

Selbstverständlich werden auch auf den Rängen politische Konflikte ausgetragen: Aufrechterhaltung oder Infragestellung des Status quo? In den deutschen Kurven haben die Ultras einen großen Anteil daran, dass rassistisches, teils auch homophobes und sexistisches Verhalten, weit weniger toleriert wird, als dies noch in den 1980er Jahren der Fall war. Diese Haltung ist selbstverständlich nicht unumstritten. Viele Fans trauern unter dem Deckmantel des Unpolitischen dieser „guten alten Zeit“ immer noch nach. Am liebsten würden sie ihren Ressentiments weiter freien Lauf lassen und von Frauen, Schwulen, Migranten und ihren „Helfershelfern“ unbehelligt bleiben. Für mich ist dies jedoch eine zutiefst politische Einstellung. Und eine bekämpfenswerte noch dazu. Es fällt mir deshalb schwer, die „Eigeninteressen“ strikt von der „Begeisterung fürs Spiel“ zu trennen.

Dennoch kann man vielleicht eine Tendenz bei den Ultras ausmachen: eine Verlagerung vom Spielgeschehen hin zur Zugehörigkeit zu einer rebellischen, internationalen Jugendbewegung. Diese Entwicklung hat man auch in Ägypten beobachten können. Nach dem Sturz Mubaraks strömten tausende desillusionierte junge Menschen in die Ultra-Gruppen. Vor allem die Ultras Ahlawy verzeichneten ab Mitte 2011 einen massiven Zuwachs. Diese jungen Studenten, Schüler, Straßenkinder und Marginalisierten aus den Slums sind sicherlich auch Fußballfans, aber in erster Linie waren sie vom sozialen Aufstand fasziniert und wollten Teil der Revolte sein. Diese Verschiebungen folgen jedoch keinem Automatismus und können in beide Richtungen vonstattengehen. Gegenwärtig kämpfen die ägyptischen Ultra-Gruppen in erster Linie wieder um ihr Recht, Spiele besuchen zu dürfen, von denen sie die letzten Jahre – nach dem Massaker von Port Said – weitestgehend ausgeschlossen waren.

Ob dies einer Rückkehr zum Fansein gleichkommt oder eher den realen Kräfteverhältnissen geschuldet ist, wird der nächste Aufbruch in Ägypten zeigen, der hoffentlich nicht ausbleiben wird.

SE: Gegenwärtig findet sich der Fußball, und nicht nur der Profifußball Europas, im Fadenkreuz  blutiger Angriffe von islamistischen FanatikerInnen. Da werden in bestimmten Regionen Afrikas immer wieder Zuschauer bei Fußballspielen oder TV-Übertragungen attackiert und niedergemetzelt, vor ein paar Wochen gab es in Paris den Versuch, das Länderspiel zwischen Frankreich und Deutschland zu sprengen. Solche Angriffe könnten sich durchaus wiederholen. Haben Ultras eine Antwort auf diese Angriffe?

RH: Am vergangenen Wochenende beim Spiel zwischen St. Etienne gegen Olympique Marseille haben die Ultras ihr Mitgefühl mit den Opfern der Anschläge auf diversen Solidaritäts-Bannern ausgedrückt. So richtig dies ist, so wenig stellt dies wohl eine Antwort auf das mörderische Treiben dieser islamistischen Terrorgangs dar. Man ist einfach ziemlich schockiert und ratlos. Dies gilt für Ultras genauso wie für Nicht-Ultras.

Noch nicht abzusehen ist allerdings, welche weiteren Maßnahmen diese Terrorattacken im Inneren nach sich ziehen werden. In Frankreich und Belgien wurde der Notstand ausgerufen. Dies bedeutet eine gewaltige Einschränkung demokratischer Rechte wie beispielsweise das Verbot von Demonstrationen und Versammlungen bei gleichzeitiger Ausweitung der Befugnisse für Polizei und Behörden. In Deutschland rief der Wurstfabrikant und Schalke-Funktionär Tönnies im Windschatten der Terroranschläge sofort nach Körperscannern an den Eingangstoren. Rudi Völler und Wolfang Holzhäuser von Bayer Leverkusen setzten noch einen drauf und forderten personalisierte Tickets und Einlass nur noch per Fingerabdruck. In Frankreich finden Spiele vorerst nur noch ohne Auswärtsfans statt. Die Hysterie um Pyrotechnik im Stadion dürfte im Gefolge des islamistischen Gemetzels auch noch an Schwung gewinnen. Diese beschleunigte Militarisierung des öffentlichen Raums wird ganz sicherlich nicht an den Stadionmauern vorbeiziehen, und es bleibt zu hoffen, dass die Ultras – wie auch andere Teile der Gesellschaft – sich diesen angekündigten und teils auch schon in Kraft gesetzten Einschränkungen lautstark entgegenstellen werden.

SE: Wenn sich Ultras als Vorbereiter revolutionären Denkens und Verhaltens definieren, wenn diese Gruppierungen jene Entwicklung unterstützen, die dahin geht, dass Individuen in Gesellschaften, besonders in repressiven, sich nicht mehr den Mund verbieten lassen (und nicht nur den Mund) – besteht da nicht die Gefahr, dass diese Bewegungen irgendwann an ihren durchaus vorhandenen Partikularinteressen scheitern?

RH: Ich denke, es ist schwierig, allgemein von den Ultras zu sprechen, da sie sich von Land zu Land und von Szene zu Szene teils sehr stark voneinander unterscheiden. Was aber wirklich für alle Ultras gelten dürfte, ist, dass sie sich als leidenschaftliche Fans ihres Vereins definieren und ein irgendwie geartetes Ethos der Rebellion vor sich hertragen. Ich glaube jedoch nicht, dass sie sich als „Vorbereiter revolutionären Denkens und Verhaltens definieren“ – eher das Gegenteil scheint mir der Fall zu sein. Dies betonen sie auch selbst bei jeder sich bietenden Gelegenheit.

Während des ägyptischen Aufstandes, aber auch in der Türkei am Beispiel von Çarşı [eine Fangruppierung des Fußballvereins Beşiktaş Istanbul, gegründet 1982; SE] im Zuge der Gezi-Park-Proteste, hat man beobachten können, dass sie in die Revolten eher hineingeschlittert sind. Dass dies so gekommen ist, war dennoch kein Zufall. Bei den Ultras Ahlawy, den Ultras White Knights, den Ultras Yellow Dragons und einigen anderen ägyptischen Ultra-Gruppen sammelten sich schon zu Zeiten Mubaraks unzufriedene, fußballvernarrte junge Männer. Ihnen erschien ein Leben zwischen Geheimpolizei, repressiven Moralvorstellungen und Armut als zu beschränkt. In den Kurven der Stadien haben sie sich ihren Freiraum gesucht und gerieten deshalb hin und wieder mit den Sicherheitskräften des Regimes aneinander. Auch Çarşı hat sich bei politischen Angelegenheiten immer mal wieder zu Wort gemeldet. Beispielsweise gegen Atom-Energie und den Irak-Krieg – aber auch die Unterstützung von Bergarbeitern bei einem Grubenunglück in Soma gehörte zu ihren Aktivitäten.

Teilerfolge haben die Ultras durchaus schon vor den Revolten erzielt; und auch jetzt setzen sie hier und da ihre Partikularinteressen, wenn man so will, weiterhin durch: Einlass zu den Spielen, Umgehung der Kontrollen usw. Während der Revolten ist jedoch etwas entscheidend Anderes passiert. Die Ultras transformierten sich in Aufständische. Sie haben ihre Identität als Fußballfans – zumindest für einen gewissen Moment – zurückgestellt und beteiligten sich an allen möglichen Dingen. Die Lieder der Ultras haben sich zu allgemeinen Protestliedern gewandelt. Sie wurden zum Liedgut der Revolte und waren sehr wichtig für die Stimmung auf den Demonstrationen. Zuvor haben die Ultras die Namen ihrer Vereine sowie ihrer Gruppen an die Häuserwände gekritzelt. Nun handelten die Graffitis von der Revolte, richteten sich gegen Mubarak und Erdogan, wahlweise gegen die Macht des Militärs oder der Islamisten.

Aber auch an der Aufrechterhaltung der Infrastruktur der besetzten Plätze haben sie sich aktiv beteiligt. Die Revierkämpfe untereinander hörten auf und es blitzte auf, dass es etwas Wichtigeres geben könnte, für das es sich zu kämpfen lohnt, als die Farben des Schals. Seite an Seite mit LGBT-Aktivisten zu kämpfen, wäre vor dem Aufstand für die meisten türkischen Fußballfans unvorstellbar gewesen; während der Revolte war es auf einmal ganz normal. Die Ultras haben sich in der Revolte inhaltlich nicht so sehr von den anderen Beteiligten unterschieden. Sie hatten ähnlich diffuse Vorstellungen, wie es weitergehen könnte.

Aber sie waren ein sehr organisierter Teil und auch von der Klassenzusammensetzung her passten sie prima hinein. Unter den Ultras finden sich prekäre Malocher genauso wie Akademiker, Schüler und einfache Selbständige. Also ein ähnlicher Mix wie die Zusammensetzung der restlichen Protestierenden. Mit einer Ausnahme: Im Gegensatz zu der immensen Beteiligung von Frauen handelt es sich bei den Ultras in ihrer überwiegenden Mehrheit um Männer. Sie waren also weder die Avantgarde während der Revolten, noch glaube ich, dass sie sich ihre Handlungsmöglichkeiten im normalen Alltag – als kritische Fußballfans – dadurch verspielt haben.

SE: Ist nicht auch zu befürchten, dass diejenigen, die sich in ihrer Machtposition herausgefordert und angegriffen fühlen bzw. sehen, umso härter gegen Ultras vorgehen und somit genau jener Zustand von Repression in Richtung faschistoider Staat erreicht wird, den die Ultras beseitigen wollen?

RH: Das kann durchaus sein, gehört allerdings ins Reich der Spekulation. In Ägypten kann man momentan eher Widersprüchlicheres beobachten. Obwohl alle Ultravereinigungen dieses Jahr von einem Gericht als terroristische Vereinigungen deklariert und verboten wurden – und Ultras immer noch gefoltert und zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt werden –, scheinen sich andere Fraktionen des Staates und der Verbände momentan etwas kompromiss- und verhandlungsbereiter ihnen gegenüber zu zeigen. Zumindest was eine erneute Rückkehr in die Stadien betrifft. Ich denke im Übrigen nicht, dass der Staat sich durch die Ultras in seiner Machtposition herausgefordert gefühlt hat. Wenn, dann schon eher durch den allgemeinen Aufstand, an dem sich hunderttausende Unzufriedene beteiligt haben – die Ultras waren lediglich ein Teil davon.

Vollkommen richtig ist jedoch, dass sich die Situation in den diversen Ländern, nach erfolgreicher Niederschlagung der Aufstände, weiter in Richtung autoritärer Staat verschoben hat. In der Türkei sitzt die AKP wieder fest im Sattel und der Krieg gegen die PKK wurde erneut aufgenommen. Die Justiz rächte sich mit langwierigen Verfahren gegen die Ultras von Çarşı, unter dem absurden Vorwurf des Putschversuchs. Diese Repression traf jedoch viele der anderen Revoltierenden mit der gleichen unerbittlichen Härte. In Ägypten wurde der Status quo der Mubarak-Ära wieder hergestellt. Staaten wie Libyen und Syrien haben sich in blutige Bürgerkriegszonen verwandelt. Wenn man die Hoffnungen, die man im Zuge der weltweiten Kampfwelle vor ein paar Jahren hatte, mit dem gegenwärtigen Zustand abgleicht, dann muss man durchaus konstatieren, dass die Konterrevolte auf ganzer Ebene gesiegt hat. Zumindest vorerst. An den Gründen für die massive Unzufriedenheit großer Teile der Bevölkerungen hat sich jedoch nichts geändert: Armut, Repression und eine zunehmende Islamisierung der Gesellschaft.

SE: Andererseits gibt es auch eine Reihe rechtsgerichteter, durchaus extrem rechter Ultra-Gruppen. Welche Ziele verfolgen diese?

RH: Die gibt es durchaus. Vor allem in Ost- und Südosteuropa sieht es diesbezüglich recht finster aus. Im Falle der Ukraine kann man beobachten, dass viele Ultras mit dem Rechten Sektor kooperieren oder sich anderen nationalistischen Gruppen, den sogenannten Selbstverteidigungseinheiten, angeschlossen haben. Im westukrainischen Lwiw helfen sie dabei, Freiwillige für die Front im Osten zu rekrutieren, oder kämpfen dort gleich selbst. Auch in Polen und Ungarn machen Fußballfans gerade massiv Stimmung gegen Flüchtlinge – inner- und außerhalb der Stadien. Es steht zu befürchten, dass diese Rassisten die islamistischen Terror-Anschläge zum Vorwand nehmen, um ihre Hetze gegen Migranten noch weiter zu verschärfen.

Aber auch einige Ultras und Hooligans aus Chemnitz, Cottbus und Leipzig scheinen in Neonazi-Strukturen eingebunden zu sein, um Aktionen gegen Geflüchtete und die Antifa zu organisieren. Offen rassistische Ultras stellen in Deutschland jedoch glücklicherweise eine absolut minoritäre Strömung dar. Eher beteiligen sich die hiesigen Ultra-Gruppen an der gegenwärtigen Flüchtlingsunterstützung: Beispielsweise die Schickeria München, Dissidenti Ultra aus Düsseldorf und The Unity aus Dortmund.

SE: Wenn ich in einem Blogbeitrag lese: „Das ist eigentlich ein Verstoß gegen die Regeln der Ultras. Es gilt als ungeschriebenes Gesetz, dass ein Fanclub der einmal seine Zaunfahne verloren hat, sich auflösen muss.“ – klingt das nicht arg nach Kinderspielchen? M.a.W.: Diskreditieren solche für Außenstehende seltsam erscheinende Regeln nicht die Ernsthaftigkeit von Ultra-Anliegen?

RH: Ich persönlich bin kein großer Fan dieser Spielchen und noch weniger bin ich ein Freund von seltsamen Regeln. Der angesprochene Blogbeitrag wurde zudem nicht von uns verfasst, sondern es handelt sich um einen gespiegelten Artikel. Ich finde es zwar auch eher albern, sich gegenseitig die Zaunfahnen zu zocken, störe mich allerdings nicht wirklich daran. Ich will das von außen eigentlich gar nicht groß bewerten. Jugendliche Subkulturen haben nun mal ihre eigenen Spielregeln, und wenn’s dabei ab und zu mal etwas ruppiger und skurriler zugeht, finde ich das nicht so dramatisch. Leuchtende Kurven finde ich auf jeden Fall durchaus stimmungsfördernd, auch wenn es die Anliegen der Ultras bei dem ein oder anderen diskreditieren sollte. Ich denke, es gibt wesentlich wichtigere Dinge, über die man sich aufregen könnte und vor allem auch aufregen sollte.

SE: Vielen Dank für das Gespräch!

Der Blog FOOTBALLUPRISING ist im Netz zu finden unter http://footballuprising.blogsport.eu

Quelle: Der Tödliche Pass Heft 79, 24. Dezember 2015

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